Der Lebenszyklus der gemeinen Bauklammer
Bauklammern lauern dort, wo Bauschutt herumliegt. Sie warten auf einen Menschen, der sie findet und in die Hand nimmt.
Ist das erst geschehen, wird der Mensch die Bauklammer auch festhalten und kurz darauf einstecken. Dass er in diesem Augenblick Opfer einer parasitären Lebensform geworden ist, ahnt er nicht.
Die Bauklammer sondert bei Kontakt mit Haut oder Handschuh eines Menschen ein hochwirksames Gift ab, das sofort in den Blutkreislauf gelangt. Unmittelbar darauf wird das Opfer durchdrungen von der Gewissheit, diese Bauklammer werde sein Heim stabilisieren. Zu Hause reinigt er sie, versucht sie geradezuhämmern und schlägt sie endlich in einen Balken ein. Sitzt die Bauklammer jedoch mit den Zähnen in einem wichtigen Stütz- und Trageteil, beginnt sie zu fressen und bildet ihr Myzel aus, ein metall- oder strohähnliches Geflecht, das auf der Suche nach weiterem Holz ständig wächst. Unter dem Verputz bilden sich Fruchtkörper, die in einem späteren Entwicklungsstadium Sauerstoff benötigen und daher ihre Köpfe aus der Wand stecken. Diejenigen, die in holzigem Untergrund wurzeln, wachsen so schnell, dass die Mutter sie bald nicht mehr ernähren kann.
Um nicht zu verhungern, braucht die unreife Bauklammer den Menschen. Der sieht die Larve, hält sie für einen handgeschmiedeten, historischen Nagel und befreit sie aus dem Holz. Wirkt dann das Gift, denkt er, es werde ihm Glück bringen, das niedliche Metallding aus alten Zeiten an seinem Schlüsselbund zu tragen – oder gar an einer Kette um den Hals.
Viele Bauklammerlarven sterben dadurch, aber das Risiko lohnt sich: Einige werden nämlich zuerst irgendwo abgelegt. Bevor der infizierte Mensch sich weiter mit ihnen befassen kann, flüchten sie in architektonische Grauzonen wie Bodenritzen oder Zwischendecken, in denen zahlreiche unklare Gegebenheiten und Organismen für einen idealen Nährboden sorgen. Dort reift die Bauklammer zu ihrer vollen Größe heran. Sie entwickelt die für erwachsene Exemplare charakteristischen Hammer- und Farbspuren und arttypischen Beißwerkzeuge und sucht sich schließlich einen jungfräulichen Balken aus, um sich darin festzubeißen. Generationen später wird jemand den Putz von diesem Balken abschlagen, sie entdecken und nicht wissen, seit wann sie schon seine Balken frisst.
Obwohl die Bauklammer sich längst nicht so schnell vermehrt wie die Fruchtfliege, ist ein befallenes Haus dem Untergang geweiht. Enthält das Holz keine Nährstoffe mehr, lockern die Bauklammern ihren Griff und lassen das ausgeblutete Wirtstier zusammensacken. Bald darauf liegen sie wieder auf einer Abbruchstelle und warten. So beginnt der Bauklammernzyklus immer wieder aufs Neue, so lange es Menschen und Holzbalken gibt.