Alles wird bässer
Aus lauter Langeweile habe ich meiner Konturlosigkeit den Volksmund angeklebt und gehe so vorbereitet in meine stille Stunde.
Leider nicht für lange, die Langeweile wird monoton brummend noch lauter, zunächst nur ein dumpfer Basston, der meine Darmschlingen kitzelt und mir die entfernte Erinnerung an Stuhlgang näherbringt, doch als ich die Zähne zusammenbeißen und den internen Druck aushalten will, fallen mir diese – beginnend mit den akribisch in Form gebissenen Inlays aus Perlmutt und Hüttenkäse – aus.
Knirsch sage ich, sagt, was ich für und vor meinen Mund halte. Meine Nase jedenfalls sagt nichts.
Knirsch.
Meine Zähne, sich auf dem Boden neu formierend, beginnen sich über weltliche Fragestellungen zu ereifern, und plötzlich ist auch meine zur Serienreife nicht gelangte Sammlung von Milch- und Weisheitszähnen im Protestmarsch zu meinen Füßen vertreten. Dieses stelle ich fest, während ich laufend andere Erfahrungen mache.
Beim Niederbücken fällt auf, daß meine rauhe Schale nächtens von Halbstarken mit orthographisch grenzgängigen Parolis besprüht wurde.
Wenn ich die erwische, bringe ich denen Schreiben bei, so mein fester Vorsatz, der sich weich um mich legt und tröstet. Ich drücke mich erneut nach oben, das Wummern in mir lässt meine Füße dabei rhythmisch ungelenk auf dem Boden der Tatsachen zurück, wie gerne wäre ich jetzt eine Frau und könnte gleichzeitig meine Zähne einsammeln, während ich aufrecht stehe, während ich über all das nachdenke, während ich versuche, den Volksmund vom Zorn zur Räson zu bringen, während.
Als Mann zerlege ich alle Aktionen in eine Aneinanderreihung und habe mehr als genug zu tun, das Drängeln an der Tür zu unterbinden, vielleicht sollte ich doch einen Türsteher einstellen; nicht sehr hilfreich im Moment, so ein Gedanke. Und schon ist mir was durchgerutscht, ohne Kontrolle erbricht sich der Volksmund aus mir und über meine Zähne und Zehen.
Beide flüchten, was meinen Standpunkt nicht weiter optimiert, sondern mir in der Körpermitte schmerzhaft die Grenzen der Materie verdeutlicht, dumpf lasse ich auch den Rest nach unten sacken, als Letztes landet der Kopf.
Aus neuer Perspektive und noch unzerstreut bleibe ich einige Momente in diesem Winkel, der Tonfall folgt meinem nach und findet sich in subbassigen Regionen wieder, ohne zu sich zu kommen. Wenn dieser Laut leise sein könnte, zahnlos würde ich mir in Selbstgesprächen die Meinung erzählen und mich darüber austauschen, vielleicht lässt sich von mir ja noch etwas lernen.
Meine Beine gehorchen mir anstandslos, doch wer braucht Anstand, wo Abstand günstiger und gesünder daherkommt, also lasse ich sie stehen und werde auf Händen getragen. So kommt es mir vor. Vorbei. Kein Gedanke für die Ewigkeit.
Unterhalb meines Oberkörpers versammelt sich der Protestmarsch rhythmisch im Gleichschritt, verteilt sich über den Asphalt in meiner Wohnung und singt ein schmutziges Lied gut und lautstark, die Frequenzen reichen jedoch nicht bis zu meinen Ohren. Meine Hände wollen mir etwas mitteilen und verbinden mit Moll die Bilder in meinem Kopf zu der Kontur eines ausgefüllten Lebens. Wenn ich nochmal von vorne anfangen könnte, ich würde ebenfalls des nächtens die Wohnung verlassen, die Dunkelheit aufsetzen wie eine Maske und blind durch die Wesenheit steigen, auf keiner Suche und nicht enttäuschbar. Wenn mir das gelungen ist, wäre ich angekommen und könnte fertiggestellt werden, zu den anderen sortierten Lebensläufen, auf einer geraden Geraden gebückt in Demutshaltung meine Oberfläche anderen sichtbar ausstellen und dabei meine Gedanken sortieren. Wenn nur erst einmal diese Erschütterung eingestellt würde, mein Trommelfell ist taub geprügelt, spätestens jetzt macht es mich ein wenig unruhig.
Ich habe Hunger.
Der Volksmund verstummt und mit ihm drücke ich sein Auge zu, die Langeweile prozessiert endlich endlich und nicht mehr uferlos an mir vorbei, grüßt wortlos, doch bedeutungsschwanger, und ist um die Ecke gebogen. Elastisch und formstabil, ein letzter Gedanke, dann ist sie verschwunden, nach unten dort hinten.
Endlich Stille. Ich hätte jetzt gerne Suppe. Oder Brei.
Gedankenstrich
Schon wieder einer. Der dritte in diesem Monat. Und wir werden wieder nichts finden. Warum holt man mich deswegen überhaupt noch aus dem Bett?
„Kommissar Sittsam, dem Kollegen geht es gar nicht gut.“
„Der packt das schon. Hier, geben Sie ihm einen Schluck, aber die Flasche will ich wiederhaben.“
„Aber …“
„Nun machen Sie schon.“
Keine Zeichen von äußerer Gewalt. Schwer zu glauben, wenn man den armen Kerl so ansieht, wie er daliegt in seinem –
„Blut gibt es keins. Die Spurensicherung hat aber große Mengen Liquor festgestellt. Und diese Zähne überall –“
„Wie weit ist Professor Hilti mit dem Hirnscan?“
„Er ist noch dabei. Sagt, das Gehirn wär schon zu kalt gewesen. Hat ziemlich schlechte Laune.“
Der soll sich mal Mühe geben. Sonst haben wir ja nichts. Keine Zeugen … verdammt, meine Augen brennen wie verrückt. Vielleicht brauche ich doch eine stärkere Brille. Mia sagt immer: Wer zu wenig schläft, altert schneller. Früher dachte ich, das sei umgekehrt. Aber früher hab ich sowieso vieles gedacht. Meine Güte, ich muß aufpassen, sonst werde ich noch so ein zynischer alter Mann wie –
„Professor Hilti sagt, Sie sollen mal zu ihm rüberkommen.“
„Wo ist meine Flasche?“
„Hier. Der Kollege hat sie aber fast leergetrunken. Es geht ihm wirklich gar nicht –“
„Hergeben.“
Na, dann wollen wir mal sehen, was er gefunden hat. Pfui Teufel, manchmal glaube ich, er genießt das fast … man sollte meinen, daß die moderne Technologie einem solche Anblicke ersparen würde, aber nein, das sieht aus, als sei er – „Zehn Zentimeter tief eingestiegen für nichts und wieder nichts. Wenn man mich eine halbe Stunde früher geweckt hätte –“
Das Papier her, Hilti, und verschon mich mit deiner alten Leier.
„Die chronologische Reihenfolge läßt sich in diesem Stadium natürlich nicht mehr rekonstruieren.“
Danke, danke … das Gerät könnte ruhig größere Buchstaben drucken, war schließlich teuer genug … was haben wir denn da? Darmschlingen … Stuhlgang … Brei … der Volksmund erbricht sich aus mir … Druck … Suppe …
„War der Junge krank?“
„Das muß das Labor klären. Ist aber sehr wahrscheinlich, wenn Sie mich fragen. Diese Typen haben doch immer was. Wohnen wie das liebe Vieh, essen einmal am Tag, wenn’s hochkommt, nehmen Drogen, damit das Hirn sich wenigstens zwischendurch mal erholen kann, wie soll man da gesund bleiben?“
Tja, wie soll man da gesund bleiben? Früher waren solche Menschen kostbar. Man hat sie gerufen, wenn man sich mit den Toten unterhalten oder den verlorenen Sohn wiederfinden wollte. Sie haben die Zukunft vorausgesagt und die Vergangenheit gedeutet. Heute landen sie auf dem Gedankenstrich, werden verachtet als –
„Mutanten sind das. Arme Schweine. Wenn ich so einen Sohn hätte, ich würde ihn in ein Kloster stecken und die Lobotomie bezahlen.“
Du wirst in deinem Leben keinen Sohn mehr zeugen, alter Angeber. Und wie ein Mutant sieht der hier auch nicht aus. Obwohl … man kann es oft nicht auf den ersten Blick erkennen, aber irgendwas –
„Kommissar Sittsam, wir haben dreiundvierzig Zähne sichergestellt!“
– ist doch bei jedem verkehrt.
„Könnte ich bitte einen Augenblick Ruhe haben? Ich würde gern dieses Protokoll fertiglesen.“
Das war also seine letzte Viertelstunde. Jemand muß ihn hierhergeschleppt haben, als er schon reichlich hinüber war. Hier könnte ein Hinweis auf die Täter sein: Beide flüchten … wenn ich die erwische … verschwunden, nach unten dort hinten … Naja, könnte auch nichts bedeuten, könnten Erinnerungen sein, Gedankenfetzen, man darf nicht vorschnell Schlüsse ziehen … hier wird es interessant: Wie gern wäre ich jetzt eine Frau … während … während … während …
„Professor Hilti?“
„Direkt hinter Ihnen.“
„Haben Sie an seinem Gehirn Besonderheiten festgestellt?“
„In der Hauptsache war es ziemlich erkaltet, wie gesagt, und die Hypothalamusbrücke war regelrecht durchgeschmort. Da muß eine starke Überlastung stattgefunden haben.“
„Hat ihn das getötet?“
„Das kann ich nicht ausschließen. Aber ob das Fremdverschulden war oder lediglich Folge eines Drogenmißbrauchs, muß das Labor –“
„Fremdverschulden? Was meinen Sie damit?“
„Nun, ich habe solche Fälle erlebt, als ich noch in der Hauptstadt arbeitete. Gedankenstricher leben gefährlich. Manchmal kommen Freier und verlangen perverse Sachen, abartige Spielchen, locken mit viel Geld und –“
„Geht das auch konkreter?“
„Da war mal diese Frau. Mathematikerin. Hatte etwas Sensationelles herausgefunden und sollte dafür den Nobelpreis bekommen. Vor der Preisverleihung ging sie ins Rotlichtviertel, gab einem dieser armen Teufel fünfhundert Euro und lagerte ihr halbes Hirn in seinem Kopf ein. Für vier Stunden, hat sie gesagt.“
„Aber warum denn?“
„Sie hatte Angst vor dem Publikum. Hatte ihre Tabletten vergessen und wußte nicht, wie sie den Abend emotional durchstehen sollte. Während sie sich feiern ließ, saß der Junge da mit ihrer miesen Kindheit, ihren Ahnungen, Assoziationen und Fehlentscheidungen. Zwei Stunden hat er durchgehalten, dann flippte er aus. Loggte sich im Internetcafé um die Ecke in den Zentralrechner der Bank ein und verzockte dreißig Millionen an der Börse. Die Sache flog auf, während er die Finger noch an den Tasten hatte. Er beging Selbstmord in der Verhörzelle.“
„Und die Mathematikerin?“
„Man konnte ihr nichts Illegales nachweisen. Sie wollte ihn noch postum wegen Diebstahls ihrer Kindheit anzeigen, hat aber davon abgesehen, weil sie merkte, daß es ohne besser läuft mit der Wissenschaft.“
„Aber das ist ja unglaublich!“
„Ist es? Und warum? Weil Sie nichts davon wußten? Seit drei Monaten sind Sie jetzt bei uns, vielleicht sollten Sie mal in den Akten blättern, anstatt Kaffee zu trinken und vergangenen Zeiten nachzutrauern.“
Daß ich mir das von dem sagen lassen muß, diesem … Mia hat immer gesagt: Du mußt raus auf die Straße, ran ans Volk, weg vom Schreibtisch …
„Vielleicht haben Sie recht.“
Und wenn schon. Davon werde ich auch nicht klüger. Was soll ich mit diesem Zettel? Ich muß die Befunde vom Labor abwarten, die Autopsie, hoffen, daß sich doch noch ein Zeuge findet. Dann kann ich ermitteln. Aber so … der Junge tut mir leid. Sein Leben muß die Hölle gewesen sein. Aus lauter Langeweile … blind durch die Wesenheit steigen … in Demutshaltung meine Oberfläche anderen ausstellen …
„Wir wären soweit. Die Leiche kann weg.“
„Was ist mit Ihrem Kollegen?“
„Im Wagen eingeschlafen.“
„Fahren Sie ihn nach Hause. Wir sind hier fertig.“
„Kommissar Sittsam?“
„Was denn noch?“
„Ich wollte Ihnen nur sagen, daß mit Ihnen alles besser geworden ist. Sie sind … anders als Ihr Vorgänger.“
Großartig.
„Danke. Nun sehn Sie zu, daß Sie zurück in Ihre Betten kommen.“
Das werde ich jetzt auch tun. Zurück ins Bett! Mia wird schlafen, aber vielleicht wacht sie nochmal auf, wenn ich über meinen Hausschuh stolpere.
„Ich nehme die Aufzeichnungen mit, Professor. Vielleicht fällt mir noch was ein beim Lesen.“
„Machen Sie sich nicht zuviel Hoffnung. Ich habe hunderte gelesen, meist ist nichts Brauchbares dabei.“
Wenn ich nochmal von vorne anfangen könnte … ein letzter Gedanke … Endlich Stille …
Was bin ich froh, daß wir eine Tochter haben. Ich muß unbedingt mit ihr reden, gleich morgen, ihr erklären … das alles erklären, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommt.