Camel Trophy ’89
So ein VW Käfer bietet nicht viel Beinfreiheit, wenn man das Wachstum erst jenseits der Durchschnittsgröße der Elterngeneration eingestellt hat. Meine Knie hängen mir fast unter dem Kinn, Roman geht es nur unwesentlich besser, er ist ein wenig kleiner als ich, aber nicht genug, um auf der Beifahrerseite hinten ausreichend Platz zu finden.
Wir sehen uns zwischendurch immer wieder nervös an, während der kleine Wagen die holprige Strecke durch den Wald mit überhöhter Geschwindigkeit fährt und dabei jede Unebenheit des Waldweges mitnimmt; eine Belastung, die von den Konstrukteuren nicht ausreichend berücksichtigt wurde, weder in den Stoßdämpfern noch in den Sitzpolstern.
Ich war ja gleich dagegen gewesen, die paar Meter trampen zu wollen. Doch Roman hatte sich durchgesetzt, also saßen wir hier.
Vor uns wieder eine große Pfütze, der Fahrer fährt einen Schlenker, um sie auch sicher zu durchfahren, gibt vorher noch einmal Gas, freut sich lautstark, als das Wasser an beiden Seiten des Autos nach oben und gegen die Scheiben spritzt. Sein kleiner Beifahrer ermuntert ihn auf Türkisch, und beide drehen sich direkt nach der Pfütze zu uns um und grinsen.
„Schau nach vorne“, denke ich, und der Fahrer dreht sich wieder um. Der Beifahrer behält uns im Blick. Ein Käfer hat keine Sicherheitsgurte hinten, doch dieses Detail ist nur einer von vielen Gründen, warum ich meine Entscheidung, am Strand in dieses Vehikel eingestiegen und nicht zu Fuß gelaufen zu sein, bereue.
Roman sieht ein wenig blass aus, trotz seiner permanenten Sonnenbräune, da ist keine Spur mehr von dem sonst so souveränen Roman, dem lächelnden, lautstarken Roman. Unsere Blicke treffen sich, und ohne Worte sind wir uns einig: Das war ein Fehler. Ein großer Fehler.
Da ist das Schild.
Da war das Schild.
Roman versucht es auf Deutsch, der türkische Junge auf dem Beifahrersitz grinst nur und schaut wieder nach vorne. Roman dreht den Kopf zu mir, er sieht mich ratlos an.
Ich schweige und verfolge die Bewegungen des Fahrers. Vielleicht sechzig, fünfundsechzig Jahre alt, ich kann das Alter immer so schlecht schätzen, lichtes Haar, grauer Bart; er schaltet wieder, wir nähern uns einer weiteren Pfütze. Der Fahrer arbeitet am Lenkrad, wieder spritzt das Wasser hoch, die beiden scheinen begeistert zu sein und freuen sich. Wir hinten teilen die Freude nur bedingt. Wir sind am Schild vorbeigefahren.
Roman wendet sich mir zu; trotz der Sprachbarriere flüstert er.
„Da hinten wäre der Treffpunkt mit den anderen gewesen.“
Ich nicke schweigend, lasse den Fahrer nicht aus den Augen, während ihn der Junge auf dem Beifahrersitz , vermutlich sein Enkel, anfeuert. Dieser gibt wieder mehr Gas, schaltet und nimmt die nächste Bodenwelle mit. Der Wagen hebt kurz ab. Ob VW diese Belastungen wohl im Design ausreichend berücksichtigt hat?
Zu meiner größten Irritation dreht sich der alte Mann wieder zu uns um, er nimmt sogar die Hände vom Lenkrad. Wild gestikulierend läßt er fremdklingende Vokabeln auf uns niederprasseln. Ich nicke stumm und grinse freudlos; wir sind am Treffpunkt vorbeigefahren, wir sind in einem türkischen VW Käfer auf der Rücksitzbank gefangen, entfernen uns mit überhöhter Geschwindigkeit vom Treffpunkt, und das alles irgendwo in einem fremden Land.
So habe ich mir die Bildungsreise nicht vorgestellt. Auch nicht auf einer Gesamtschule.
„Wir müssen raus, die fahren uns doch irgendwohin, wie sollen wir denn zurückkommen? Gibt es hier überhaupt Telefonzellen?“
Roman wirkt beunruhigt.
Der alte Mann hat sich wieder der nur andeutungsweise vorhandenen Fahrbahn zugewandt, während sein kleiner Begleiter uns munter in ein Gespräch verwickelt. Roman antwortet in einfachen Sätzen: „Wir müssen zum Strandrestaurant. Res-tau-rante.“
Er legt viel Überzeugung in die Stimme. Der Junge wirkt begeistert, er lacht viel. Und er ist nicht angeschnallt. Wie keiner im Wagen.
Das Gespräch stockt.
Der Wald ist kurvenreich und der Boden regendurchweicht, der kleine Käfer kommt immer wieder ins Schlittern, bricht aus, der Fahrer lenkt gegen und schafft es, die Fahrt bei unverändert hoher Geschwindigkeit fortzusetzen.
Ich schaue aus dem Seitenfenster und sehe die Bäume vorbeifliegen. Jetzt sind wir schon mehr als zehn Minuten am vereinbarten Treffpunkt vorbei. Mir wird mulmig.
Der Junge scheint damit ein Einsehen zu haben, daß unser Türkisch lückenhaft ist; er wendet sich ab und spricht wieder mit seinem Großvater. Roman wirkt wie eine Karikatur seiner selbst.
Opa dreht sich zu uns um, während sein Enkel das Lenkrad hält. Er fuchtelt mit sonnengebräunten und faltigen Händen in die Lücke zwischen Roman und mir und spricht:
„Camel Trophy.“
Und grinst, Zahnlücken zeigend.
„Camel Trophy.“
Wir grinsen auch, nicken zustimmend, der Beifahrer reißt am Lenkrad, der Wagen schleudert leicht.
Der Junge ruft etwas, der Fahrer dreht sich nach vorne und übernimmt. Vor uns nimmt die Landschaft wieder Kontur an, der Wald wird lichter, die Sonne scheint über uns.
Wir fahren auf einer Landstraße und nähern uns nach einigen Minuten einem Dorf.
Roman schöpft neue Hoffnung. Er flüstert wieder: „Vielleicht können wir hier telefonieren?“
Er erhebt die Stimme, weist darauf hin, daß wir hier und jetzt gerne aussteigen würden.
Das Dorf befindet sich auf einem Hügel, Serpentinen führen hinauf. Der Wagen wird durch die Steigung abgebremst, man winkt uns vor den Häusern sitzend aufmunternd zu, Kinder, Senioren, alles lächeln freundlich beim vorbeifahren
Die Camel Trophy scheint in dieser Gegend sehr beliebt zu sein.
Eine Telefonzelle ist nicht zu sehen.
Das Dorf liegt hinter uns, noch immer führen die Serpentinen nach oben, wir erreichen den Gipfel. und weiter geht die kurvenreiche Fahrt, mit zunehmender Geschwindigkeit. Ich drücke mich in den Sitz und halte mich leicht verkrampft am Vordersitz fest. Bäume, Felsen fliegen vorbei, in der Ferne das Meer.
Roman hat sich entschieden, die Gesamtsituation doch noch unterhaltsam zu finden, er grinst, mir ist mulmig. Den Ortsnamen habe ich nicht erkennen können, wir fahren nun schon eine Weile durch vollkommen unbewohnte Berggegenden, der Rest unserer Bildungsfahrt wird sicher schon beim Treffpunkt sein und es sich am Mittagstisch bequem machen.
Der Junge spricht lautstark und lachend mit seinem Großvater, dreht sich immer wieder zu uns um und lacht uns aus, diese kleine Schlange. Ich nehme mir vor, mir das Nummernschild zu merken und bei sich hoffentlich bietender Gelegenheit Anzeige zu erstatten, sobald wir irgendwie wieder zu dem Rest unserer Gruppe stoßen werden. Der Wagen ist tiefblau, wahrscheinlich ralleyblau.
„Camel Trophy!“
Der Junge sieht uns lachend an.
Der Wagen bremst.
Das Mittagessen ist reichlich und, wie bisher immer in diesem Land, lecker. Roman grinst mich durch seine sonnenbraune Souveränität über den Tisch an. Ich grinse zurück, beiße in ein Stück Lammbraten und kaue.
Natürlich haben die anderen unsere Geschichte nicht geglaubt, nicht sofort jedenfalls. Daß uns die beiden am Strand wieder abgesetzt haben, etwa fünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo wir morgens mit dem Rest der Gruppe angekommen waren und den Vormittag verbracht haben. Daß wir dann eilig den Weg in den Wald erneut und diesmal zu Fuß angetreten haben, nach einer Viertelstunde das Schild sahen und diesmal abgebogen sind. Daß uns zwei offensichtlich freundliche, gastfreundliche Einheimische eine kostenlose Inselrundfahrt geschenkt haben.
Ich selber werde es erst Jahre später endgültig begreifen und eine Geschichte darüber schreiben.
Das Lamm ist köstlich, ein Siegermahl. Wir haben die Camel Trophy gewonnen.