Des einen Leid …
Die Haut erinnert an Alabaster, sanft spannt sie faltenfrei über den Wangenknochen, die Zähne sind makellos weiß, die Lippen voll. Der Haaransatz duftet sicherlich zart und sinnlich, ihr Hals wirkt zerbrechlich, wie mit Seidenpapier belegt, das volle Haar fällt mit jungem Schwung an ihm vorbei, einige wilde Spitzen gestatten sich, das Dekolleté zu umschmeicheln und wahrscheinlich zu kitzeln. Ihr Rücken ist gerade, beim Entlangstreicheln könnte man ohne großen Druck ihre Rippen ertasten, die sich ideal von ihrem Rückgrat entfernen und den schmalen Brustkorb formen, der vorne wie zwei sanfte Sandverwehungen in der Wüste weiche Formen annimmt und verläuft. Ihre Silhouette gegen das Licht ist ein leises Lied, ihre dünnen, doch festen Arme münden in kleinen weißen Händen, Händen, die noch keine schwere körperliche Arbeit leisten mussten und auch nicht dafür geschaffen sind.
Marie ist noch keine dreißig, erfolgreich in ihrem Job als Sekretärin eines cholerischen, aber auf optische Reize beruhigt reagierenden Personalchefs eines modernen Unternehmens, und
Marie schreit im Moment. Marie schreit sehr laut.
Karn ist ein Mensch ohne Freunde. Was daran liegen mag, daß er Restakne, keine Zähne mehr und keinerlei Mitgefühl hat und nur noch über ein Ohr, das linke, verfügt. Das rechte verlor er bei einem Pokerspiel, in dessen weiterem Verlauf er auch etwas anderes, einen ganzen Mann unbedingt auszeichnendes, auf sein Blatt setzte.
Nicht nur an diesem Abend hatte Karn keine Gunst von Fortuna zu erwarten.
Karn hält sich in den dunklen Stunden des Lebens und der Städte auf, die Sonnenseite des Lebens kennt er nur von Besuchen bei anderen Menschen, Kurzbesuchen.
Er ist kräftig, sowohl in der Statur als auch in der Stimme und Wortwahl, und die Tatsache, daß er entmannt und skrupellos ist, macht ihn für seinen Auftraggeber zum besten und wertvollsten Mitarbeiter.
Ist Karn doch blind gegenüber jedwedem optischen Reiz, und wenn nicht blind, so doch wenigstens in einem Maße desinteressiert, daß sein Missionsziel bei keiner Marie dieser Welt in Gefahr geraten könnte.
Und so kann ihn weder ihre Schönheit noch ihr Schreien aufhalten. Mit festem und unnachgiebigem Griff drückt er ihren linken Unterarm auf eine Tischplatte, holt weit aus, und während sein anteilsloser Blick in ihren vor Angst weit aufgerissenen Augen ruhig verharrt, schlägt er mit dem kleinen, silbrig glänzenden Fleischermesser Gourmet zu. Einmal.
Das Messer schneidet scharf und vollständig, ihre vollen Lippen sind weit geöffnet, der Kopf ruht im Nacken, der Raum ist angefüllt mit lautem Schmerz.
Karn nimmt das Messer zurück, reinigt es sorgsam mit seinem Taschentuch, dann lässt er es mit einem zufriedenen Geräusch zurück in die Scheide unter seiner linken Achsel gleiten.
Routiniert seine Handgriffe, in der Innentasche den Beutel, der Griff nach der Beute, Einstecken. Zufriedenes Grinsen.
Er deutet einen Gruß an und verlässt Maries Wohnung wieder, sie weint und wird in einigen Stunden verblutet sein.
Der Mann hinter dem Schreibtisch dreht sich, lautstark an seiner Pfeife paffend, langsam auf seinem Ledersessel im Kreis. Nacheinander ziehen die Skyline im Morgengrauen, sein Leibwächter Knut in entspannter, doch aufmerksamer Pose und einem gutgeschnittenen, dunkelgrünen Anzug und die große Topfblume, deren botanischen Namen er sich einfach nicht merken kann, obwohl er immer wieder in Versuchung gerät, mit seinem Wissen über die Flora und Fauna vor Freunden zu protzen, vorbei. Die lederbezogene Eingangstür, sein Leibwächter Lutz, in gleichem Tuch gewandet wie Kollege Knut und seine Gesichtszüge hinter einem gut frisierten Vollbart verbergend, Karn auf einem Stuhl direkt gegenüber am anderen Ende des Schreibtisches. Karn und seine Ausbeute der Nacht. Vier Hände sind es insgesamt.
Der Mann hinter dem Schreibtisch stoppt die Drehung des Stuhls, legt mit großer Geste beide Hände flach vor sich auf den Schreibtisch, sein Blick wandert langsam über die Auswahl, es sind drei Frauen- und eine Männerhand, eine Frauenhand trägt einen dünnen goldenen Ring.
Er ergreift die Hand mit dem Ring, hebt sie vor sein Gesicht und dreht sie langsam, wie vorher seinen Sessel. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtet er die schon deutlich nach Cadaverin riechende Hand – Karn hatte diese Dame am frühen gestrigen Abend als Erste auf seinem Beutezug besucht – der Geruch stört ihn nicht, im Laufe der Zeit hat er ihn sogar ein wenig zu genießen gelernt, ist es doch die olfaktorische Komponente seiner speziellen Leidenschaft und untrennbar von Anbeginn mit ihr verbunden, kein Parfumrest am Unterarm kann den immer durchdringenderen, pestilentiösen Hauch von 1,5-Diaminoptentan dauerhaft überdecken. Und da er die Angewohnheit hat, die Hände nicht immer sofort, sondern bisweilen erst Tage später zu genießen, ein auch haptisch verändertes Erlebnis im Vergleich zum Zeitpunkt größtmöglicher Frische, kennt er diesen Geruch des Todes gut und immer besser.
Bedächtig legt er den beringten Stumpf wieder auf die gläserne Tischplatte, nickt zufrieden und setzt das Drehen des Sessels langsam fort.
Das Bild des Großvaters, ein Ölgemälde mit einem sehr breiten, blattgoldverzierten Holzrahmen, lebensgroß in Siegerpose; wer ihn kannte, weiß, daß diese Pose eine für ihn typische, ja kennzeichnende war, ein lebenslanger Sieger. Wieder eine große Topfpflanze, eine Palmenart, Arecaceae – diesen Begriff konnte er seinem Halbwissen dauerhaft zu Eigen machen, weil ihn die Tatsache faszinierte, mit nur vier Buchstaben ein solch komplexes Gebilde konstruieren zu können. Der Tresor, halb von den Palmwedeln verdeckt, die Skyline der entschwindenden Nacht.
Wieder stoppt er die Drehung.
Eine befehlende Geste mit der Hand, Knut greift in sein Sakko und zieht ein Bündel Geldscheine hervor. Legt es auf den Tisch, schiebt es langsam über das Glas zu Karn hin. Nimmt die Hand zurück und zupft sich ein nur für ihn erkennbares Staubkorn vom Revers.
Karn wartet noch einen Moment, doch der Sessel dreht sich nicht weiter, dann nimmt er das Geld an sich, ungezählt, es stimmt jedesmal, er weiß es.
Er faltet die Hände zusammen, als würde er beten, und wartet.
Der Mann hinter dem Schreibtisch zieht lautstark an seiner Pfeife, die Glut ist erloschen, und so steigt kein Rauch auf; er macht eine schnelle Bewegung mit dem Sessel, läßt Tresor, Grünzeug und Großvater schnell vorbeiziehen, mit einer hektischen Bewegung legt er die Pfeife auf den Schreibtisch, streckt beide Hände nach vorne, die Finger hochgereckt und krummgliedrig, streckt sie Karn vor das Gesicht.
„Sieh dir das an, mein Freund.“
Karn sieht sie sich an, die Druckstellen, die Nikotinflecken, die alten Finger, die sauber geschnittenen und gepflegten Fingernägel.
Der Mann hinter dem Schreibtisch greift sich eine der Hände, der Frauenhände, hält diese anstelle seiner vor Karns Augen.
„Ohne dich und deine Hilfe, Karn, hätte ich es nie geschafft.“
Er führt die Hand langsam zu seinem Mund, öffnet diesen ein kleines bißchen, er fängt mit dem kleinen Finger an.
Mit leichtem Nuscheln und begleitet von saugenden und knabbernden Geräuschen hören Karn und Knut und Lutz den Mann hinter dem Schreibtisch: „Ohne deine Hilfe hätte ich es niemals geschafft, mir das Nägelkauen abzugewöhnen.“