Die Nacht im Pulverturm
Daß er Spiele erfand, die nie jemand spielte, war ihm ein alter Kummer. Er erfand Computerspiele, Brettspiele, Rätsel; um Geld zu verdienen, schrieb er für verschiedene Zeitungen, glücklos. Von Zeit zu Zeit beteiligte er sich an eigenartigen Projekten, die für gewöhnlich scheiterten; schon seit zwanzig Jahren war er verschuldet für den Rest seines Lebens und kultivierte einen nadelfeinen Zynismus, an dessen dünnem, festen Seil er sich über die würdelosen Abgründe von Verzweiflung und Selbstmitleid hinwegzuhangeln pflegte. Heute morgen hatte er mich angerufen.
„Mit mir stimmt was nicht“, hatte er gesagt.
Also fuhr ich, um meinen Freund zu treffen, den ich nie gesehen hatte; seit fünf Jahren kannte ich ihn, oder besser: Ich kannte seine Schrift. Wir schrieben uns Briefe, teilten Geheimnisse. Telefoniert hatten wir noch nie.
„Anrufen würde ich dich nur, wenn es um Leben und Tod ginge“, hatte er einmal geschrieben.
Durch halb Deutschland mußte ich fahren, im Zugabteil ein Buch auf den Knien zerfleddernd; ich las nicht, ich sah nicht aus dem Fenster, ich war in Gedanken versunken.
Er saß allein auf einer der schmalen Holzbänke der kleinen Bahnhofshalle. Erst bemerkte er mich nicht; ich wollte die Situation ausnutzen und ihn ein wenig von fern beobachten, aber Sekunden später hob er den Blick und sah mich direkt an. Ich durchquerte die Halle, er stand auf, stand vor mir, kaum größer als ich.
Ich sah in sein Gesicht, das ich mir nie vorgestellt hatte, es war ernst und ein wenig starr, als sei er sehr müde. Gekleidet war er genauso unspektakulär wie ich, fast schäbig. Eine erstaunliche Menge von hellblondem Haar fiel ihm lang auf den Rücken und schimmerte selbst im Neonlicht.
Ganz still stand er da und ließ sich ansehen, Wärme breitete sich in meinem Bauch aus, als ich ihn langsam erkannte. Nach vielen Minuten fing ich seinen unruhigen Blick.
Tief und zittrig holte er Luft, lächelte.
„Ich glaube, jetzt bin ich gerettet“, sagte er.
Keine Frau hatte ihn je berührt, das war eines der Geheimnisse, die wir teilten, und sein zweiter alter Kummer.
Vor Jahren, das Seil fest in der Hand, hatte er geschrieben: „Ich bin eine dieser tragischen Gestalten, denen solche Freuden weder zugänglich noch zuträglich sind.“
So unterdrückte ich den Impuls, ihn zu umarmen, und gab ihm nur die Hand; er trug einen schmalen hölzernen Ring.
Es war nicht weit, dann allerdings siebzig Stufen, er wohnte unterm Dach. Die Wohnung war winzig, ein Zimmer mit Schrägwand und Fenstergaube. Er tappte auf einen Schalter am Boden, und ein riesiger Bildschirm erwachte zum Leben und begann eine Art Farbspiel zu zeigen, das das Zimmer erleuchtete.
Es gab nur einen Stuhl in der ganzen Wohnung, wir setzten uns auf den Holzboden. Unter der Schräge stand sein schmales Bett.
Zum Rauchen musste ich in der Gaube stehen, ich schnippte die Asche auf das Dach vor dem Fenster und schaute zu, wie die grauflockigen Kegelchen noch einen Ziegel weit abwärts rollten und dann zerfielen. Aus dem warmen Halbdunkel hinter mir kam seine Stimme, er hatte viel zu erzählen, zu beklagen.
Ich hörte ihn gern, ich wollte die ganze Nacht zuhören. Vom Fenster aus sah man über den Rangierbahnhof, der Himmel wurde dunkel, die Räder der Züge kreischten. Die seltsamen farbigen Gebilde auf dem Bildschirm ließen bunte Flecken über die Tapete wandern.
Später spielten wir Schach, zwei Partien, die ich beide verlor. Als er die Figuren zum drittenmal aufstellen wollte, fragte ich, ob wir nicht lieber eins der Spiele machen könnten, die er erfunden hatte.
„Das einzige dieser Spiele, das ich im Augenblick ertragen kann, beleuchtet das Zimmer“, sagte er.
Wir wandten uns dem Bildschirm zu und betrachteten die farbigen Muster. Unzählige winzige Pünktchen drängten sich dort zu größeren Flächen zusammen, die allenthalben in Bewegung waren, miteinander verschmolzen, sich gegenseitig verschluckten und verdrängten, um sich wieder zu trennen und neue, andersfarbige Gebilde hervorzubringen.
„Der Evolutionssimulator“, erklärte er, „eine Schnapsidee. Viertausend Parameter sollten das Verhalten dieser Farbkleckse beeinflussen, aber sie tun es nicht. Für stimmungsvolles Licht ist er allerdings prima.“
Zusammen sahen wir eine Weile zu, wie eine Gruppe violetter Pünktchen sich teilte, um eine kleinere blaue Gruppe von allen Seiten einzuschließen und zu assimilieren. Träge schwebte das violette Volk dann über den Bildschirm und schluckte dabei verschiedene aufkeimende Jungkulturen, bevor in seiner Mitte ein gelbes Pünktchen geboren wurde, rasch wuchs und einen Aufruhr anrichtete, so daß das Imperium an den Grenzen unachtsam wurde, zerfaserte und große Gebiete an vorübereilende Marodeure verlor.
Dann spielten wir noch eine Partie Schach, die er wieder gewann, redeten über unsere Freundschaft, über künstliche Intelligenz, über unsere Lieblingshelden aus schauerlichen romantischen Erzählungen.
„Ich bin der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau“, sagte er.
Von der Seite sah ich meinen Freund an, sah die bitteren Linien in seinem Gesicht und empfand schaudernd, mit einem zum Tode Verurteilten in einer Gefängniszelle zu wachen, auf den Morgen zu warten. Im ersten Licht würden Stiefelschritte im Korridor näherkommen, vor der Tür anhalten; plötzlich hatte ich große Angst um ihn.
Er schwieg. Das bunte Licht tanzte über sein Haar, tauchte dazwischen hin, glitt über seine Stirn. Er war mir unendlich fern. Ich liebte ihn.
Ohne zu denken streckte ich die Hand aus und berührte seine Schulter. Er zuckte zusammen.
„Ich möchte dein Haar kämmen. Bitte!“
Erst schaute er mich völlig fassungslos an, als habe ich eine Perversion verlangt. Das Blut schoß mir ins Gesicht. Auf einmal lachte er.
Er holte eine gute, teure Haarbürste aus dem Bad, gab sie mir und setzte sich wieder neben mich, den Rücken mir zugewandt; das Herz schlug mir bis zum Hals. Als er meine Berührung spürte, erschauerte er und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
Durch die ruhige Bewegung verlor ich meine Angst. Ich glättete Strähne für Strähne. Wenn ich meine Hand unter sein Haar schob, fühlte ich seine Wärme, manchmal knisterte es, und ein Fünkchen sprang über meine Finger. Irgendwann merkte ich, daß seine Schultern zuckten, und begriff, daß er weinte.
Sein Haar duftete wunderbar, es war schwer und weich; ich legte die Bürste weg und vergrub meine Hände, dann auch mein Gesicht in warmem, lebendigen Gold, es teilte sich wie Wasser. So saßen wir, während es Morgen wurde.