Egophobie
Meiner Angst ziehe ich einen kurzen Rock an und schicke sie abends auf die Straße, hoffend, daß sie sich fremden Männern an den Hals wirft, bei ihnen bleibt, den Rückweg vergisst oder mindestens den Schlüssel.
Jeden Morgen steht sie dann wieder vor meiner Tür, hat den Schlüssel nicht vergessen. Beim Reinkommen macht sie so viel Lärm, daß ich erwachen und ihre Rückkehr bemerken muss, oft bringt sie Geld mit, mit dem sie mir die schlaflose Nacht und die schweißnassen Träume abkauft. Sie legt es auf den Küchentisch, bevor sie sich erneut an mich schmiegt.
Mein Versuch, sie wegzustoßen, endet erfolglos. Erneut und immer wieder.
Als wir uns kennenlernten, als ich sie zum ersten Mal sah und ihr begegnete – schüchtern war ich, und sie hielt mich Ewigkeiten im Haus, meiner Wohnung, fest. Ich hatte keinen Weg mehr nach draußen, nichts war dort, was mich zog, es war gelebte Zweisamkeit.
Es war ich und wir.
Dann und wann sehen wir uns gemeinsam auf dem Sofa alte Fotoalben an; wie groß sie doch geworden ist in den Jahren, wir staunen beide darüber und lachen nicht.
Und wenn sie nicht geht, wenn sie mich anfleht, zu bleiben, und bleibt, dann bitte ich sie zu mir, dann nehme ich sie an. „Komm, halt mich bitte. Halt mich wenigstens wach.“
Manchmal bringt sie fremde Männer mit, schleppt sie die drei Stockwerke nach oben, legt sie auf dem Küchentisch ab, und beim Frühstück sehen wir uns schweigend an.
Ich habe schon überlegt, eine Tageszeitung zu abonnieren, um wenigstens diese sprachlosen Anblicke zu vermeiden. Doch mich interessiert kein Sport, von Politik verstehe ich nichts, und auch das Feuilleton kommt meinen Interessen nicht entgegen. So bleiben wir morgens stille beieinander, bis der Fremde sich erhebt, ihr dezent zuzwinkert und mich nur eines kurzen Blickes bedenkt, den Rückweg noch wissend oder ahnend seinen eigenen Tag betritt.
Früher, da hat sie wenigstens noch um meine Erlaubnis gefragt, hat sie unten bei der Gegensprechanlage warten lassen und gebeten, die Schuhe im Flur auszuziehen. Damals, als ich das Gefühl noch sehr viel häufiger genoss, das Gefühl zu sein, ich und Herr.
Sie hat mich schon lange nicht mehr gefragt. Morgens ist das Bad verschlossen, und ich höre eine fremde Stimme unter der Dusche, finde seine Haare im Abfluss, wenn das Bad wieder frei ist, und kein Papier mehr, weil er es verbraucht hat.
Wir sprechen nicht darüber, man wird müde beim Versuch, es zu tun; nun fällt es viel leichter, es zu lassen, keinen von uns stört das Schweigen, ich bin sicher – es ist so.
Seit heute ist sie nicht mehr da.
Ich suche sie den gesamten und ganzen Tag schon, spüre ihr nach, ist sie in der Küche, im Schlafzimmer, beim Nachbarn, oder kauft sie ein? Ich finde sie nicht, und dabei suche ich sie, ich kann sie nicht finden, und niemand hat sie gesehen, niemand, der mich kennt.
Sie hinterlässt eine Lücke, eine Leere, ein Loch.
Und mich.
So hatte ich es mir nicht vorgestellt.