Graceland
Im Winter ist meine Heimatstadt ein Pyjama, in dem man getrost Jungfrau bleiben kann. Da vergammelt nichts, das verwittert in Würde, allein die Wasserspeier mit ihren irren, traurigen Fratzen –
Ab Mai trocknen die Steine, das Studentenmosaik wächst in den Neckarwiesen, und Millionen Touristen kommen, um sich an den Spuren berühmter Söhne zu erfreuen, mit denen die Stadt im Übermaß gesegnet ist. Was hier nicht alles erfunden, erdacht, gegründet, beschlossen, komponiert und geschrieben wurde!
Besonders bedeutsame Aussichtsausschnitte werden von Steinpfeilern mit Loch und Hinweistafel präsentiert: Bei diesem Anblick kamen Kraut erste Zweifel an der reinen Vernunft. Hier erinnerte sich Moldenhauer an die Möglichkeit der Schönheit krummer Formen.
Wer auf der richtigen Seite steht und durch das Loch schaut, kann sich überlegen, ob ihm dieselben Gedanken gekommen wären.
Am Spätnachmittag des letzten Eisheiligentages stand ich auf der unbetafelten Seite meines Lieblingspfeilers (Einfluß der Nebelschwaden über den Harlekinshügeln auf die Stimmführung in Meisensteins vierter Traktate), schmiegte meine taube Wange an den Granit und sah verkehrtherum durch das Loch auf den Bartholomäusbrunnen. Vor knapp einer Stunde hatte ich meinen dritten Weisheitszahn verloren. Er war so krumm und häßlich gewesen, daß ich ihn an der nächsten Ecke in einen öffentlichen Mülleimer warf. Jetzt hatte ich nur noch neunundzwanzig Zähne, durfte nicht rauchen und wartete auf den Schmerz.
Die Dame im Trauerkleid war mir sofort aufgefallen, weil sie die Füße vorwärtsschob, als habe sie Räder darunter. Sie trug ein Schleierhütchen und führte einen bodennahen Wursthund mit, dessen Bauchfell das Pflaster fegte. Seit zehn Minuten umkreisten sie den Brunnen, dreimal waren sie schon hinter den dicken Steinengeln verschwunden und wieder aufgetaucht, und zwar aus derselben Richtung. Ich stellte mir vor, daß sie den Richtungswechsel in einer präzisen, synchronen Bewegung vollzogen, ohne sich dabei anzusehen.
Schließlich blieben sie stehen, gleichzeitig, und standen eine ganze Weile, wobei die Hundeschnauze immer tiefer sank und schließlich auf dem Schuh der Dame zu liegen kam.
Wind wehte in meine Ärmel, in meinem Kiefer pochte es, meine Füße wurden kalt. Fast hätte ich weggesehen, aber da hob der Hund die Schnauze, und die beiden setzten sich wieder in Bewegung und überquerten die Fußgängerzone.
Während ich ihnen nachsah, weitete ein Gefühl, das ich nicht kannte, meinen Brustkorb mit solcher Heftigkeit, daß ich glaubte, meine Rippen knacken zu hören. Zurück blieb ein eigentümliches Echo, das ich genausowenig dingfest machen konnte: Herausforderung? Einladung? Mitwisserschaft?
Am stärksten war die Gewißheit, mir nie verzeihen zu können, wenn ich die beiden jetzt aus den Augen verlor.
Ich folgte ihnen die Kerzenmachergasse hinauf und betrat hinter der Dame einen Teeladen, in dem sie eine Sorte Konfekt verlangte, die es dort nicht gab. Sie sprach leise und wohlmoduliert. Nachdem der Verkäufer sein Bedauern ausgedrückt hatte, wandte sie sich ab, nahm eines der winzigen Porzellantäßchen aus dem Regal und hielt es ins Licht, um es zu betrachten. Ich kaufte Ingwerstäbchen und verstaute sie in meiner Tasche, während die Dame vor dem Laden ihren Hund losband.
Draußen hatte es zu nieseln begonnen, aber das störte die beiden nicht. Sie behielten ihr bedächtiges Tempo bei und spazierten über die Kanalbrücke in Richtung Marktplatz. Die Hundeleine hing durch, die Dame ging, ohne die Schultern zu bewegen, und hielt sich so aufrecht wie Audrey Hepburn. Ich trottete hinterher und dachte an die Ingwerstäbchen und daran, was der Zahnarzt über sekundäre Wundheilung erzählt hatte.
Wegen des Regens war der Marktplatz ziemlich leer, nur an den Cafétischen unter den Arkaden saßen Leute. Dort drückte sich auch eine geführte Reisegruppe herum und ließ sich auf Französisch die berühmten Fassadenmalereien Nosbaums erklären, die selbst im Tageslicht erschreckend sind.
Das Gesicht Tamars, die Juda den Ring unter die Nase hält: Sie hält ihn an der Schnur, mit zwei spitzigen Zangenfingern, fast sieht man ihn baumeln.
Daneben Ikabods Geburt, eimerweise verschüttetes Opferfleisch zwischen qualmende Tempeltöpfen, auf Französisch hört sich das harmlos an, aber man möchte es seinem schlimmsten Feind nicht wünschen.
Jetzt die Frau mit dem Blutfluß! Es hat dem Künstler gefallen, das Blut als dünnes Seil sich unter ihrem Kleid hervorringeln und um Jesus’ asketische Wade knoten zu lassen, und Jesus sieht sich danach mit einem Ausdruck um, als habe er die Urmutter aller Laufmaschen entdeckt –
Nein, das ist nicht schön, war aber wegweisend, und genau davor stand ein freier Tisch, an den sich die Dame setzte. Ihre Handtasche legte sie auf den zweiten Stuhl, der Hund nahm akkurat zwischen den Stuhlbeinen Platz, sofort kam ein Kellner gelaufen.
Ich schlenderte ein wenig bei den Souvenirläden herum, besah mir die Taschenkuckucksührchen, Plastikkirchen, Wappenlöffelchen, Zinnteller und Hemden:
The Black Forest by night … (weiß auf schwarzem Grund).
I love Heinrich, but he just wants to be friends (mit blauen Blumen).
Some idiots went to Swabia, and all I got was this lousy T-Shirt!
Die Dame trank Kaffee und schrieb einen Brief. Mit Tinte auf feinem Papier, sie hatte den Schleier zurückgeschoben und schrieb, als habe sie nie wieder etwas anderes zu tun. Nach einer halben Stunde betrat ich das Café und bestellte einen Kamillentee. Jetzt konnte ich von drinnen beobachten, wie sie sich nicht im geringsten beeilte, dabei faden Sud im Mund herumwälzen und mir dessen wundertätige Wirkung suggerieren; zuerst war er immerhin heiß genug, mir Zunge und Gaumen zu verbrühen, dann wurde er kalt und schmeckte bitter; ich bestellte einen neuen.
Inzwischen starrte ich die Dame ungeniert an, aber sie hob nicht einmal den Kopf, malte nur einen Buchstaben nach dem anderen und hatte so in anderthalb Stunden knapp eine Seite gefüllt.
Was, wenn sie mich längst bemerkt hatte und absichtlich so langsam schrieb? Vielleicht glaubte sie, mich dadurch aushungern und vertreiben zu können. Glaubte sich am längeren Hebel, weil sie wußte, was sie tat und warum. Weil ich Schmerzen hatte, nicht rauchen durfte und meine Kapuze im Nacken naß war.
Ich erwog, nach Hause zu gehen und mich im Bett zu wälzen, aber dann kam mir eine bessere Idee: Ich rief den Kellner zum Bezahlen und bezahlte den Kaffee der Dame gleich mit. Jetzt hatte ich den Spieß umgedreht und konnte mich zurücklehnen.
Endlich schraubte die Dame ihren Füller zu, blies über das Papier, faltete den Bogen und steckte ihn ohne Umschlag vorn in ihre Handtasche. Kurz blickte sie über die Tische: Hielt sie nach einem Kellner Ausschau? Sie strich den Schleier über die Augen.
Der Hund kam unter dem Stuhl hervor, als sie sich erhob und ihr Kleid glättete. Sie betastete den Verschluß der Handtasche, sah zu den Caféfenstern hinüber: Jetzt mußte sie dem Kellner winken! Oder würde sie zum Bezahlen hineinkommen?
Einen Moment lang glaubte ich, ihren Blick auf meinem Gesicht zu fühlen. Dann drehte sie sich um und ging weg.
In meiner Fassungslosigkeit hätte ich sie fast verloren. Ich lief zum Kellner und fragte ihn, ob er der Frau draußen gesagt habe, ihr Kaffee sei bezahlt. Er behauptete, sich weder an den Kaffee noch an die Kundin erinnern zu können. Ich glaubte ihm nicht, redete auf ihn ein und merkte zu spät, daß ich nicht beobachtet hatte, wohin die Dame gegangen war. Es dauerte eine Weile, bis ich sie wiederfand, denn auf die stinkige Unterführung kam ich erst, als ich alle anderen Wege einschließlich der Geigenbogenbrücke überprüft hatte.
Es regnete nicht mehr. Die Sonne war längst hinter den Hügeln, der Himmel aber noch hell, lasche Wolken von einem Horizont zum andern und klamme Abendluft. Dame und Hund gingen jetzt schneller, das heißt: sie gingen bergauf, ohne das Tempo zu verringern, so daß die Verfolgung mühsam wurde.
Die Kurze Staffel, dann die Lange Steig, über den alten Friedhof, hier war niemand mehr außer uns, die Treppen hinter der Kapelle, den Saumpfad neben der Ruine entlang. Ich gab mir keinerlei Mühe, mich zu verbergen, nieste, als wir an den blühenden Birken vorbeikamen, stolperte, fluchte: Weder Dame noch Hund drehten sich um. Wir gingen wie in Seifenblasen: Meine war klein, einseitig schalldicht und verformte sich bei jedem Schritt, ihre war groß und stabil und konnte auf diese besondere Art gleiten, den Hund zum Beispiel nahm es glatt über alle krummen Stufen mit; ich traute mich nicht nah genug heran, um zu erkennen, wie es funktionierte.
Die Stadt lag jetzt weit zurück. Wenn ich den Kopf wandte, konnte ich zwischen Baumkronen hindurch das ganze Tal überblicken, Leuchtspuren und Rauchfäden in der Tiefe, mittendrin der Fluß wie ein Streifen Silberpapier.
Wir hatten die Thingstätte erreicht, die mir immer Gänsehaut macht, weil sie so viel älter aussieht, als sie ist, gingen um die Bühne und weiter hinauf.
Vereinzelt lagen noch Walpurgisnachtrelikte herum: Sektflaschen, eine zerrissene Picknickdecke, Fackelstummel, Zellophantütchen, angesengtes Holz. Die große Seifenblase glitt schräg über Sitzreihen und Treppen bergan, ich folgte im Zickzack und fand es immer schwieriger, Schritt zu halten. Wohin wollten sie denn noch? Oberhalb der Thingstätte ist Wald, Bannwald, sehr ungemütlich an einem derart feuchten Abend. Einziger Lichtblick ist die Rodung mit der riesigen Satellitenschüssel, in der zehn Menschen liegen können, aber dafür hätten wir in die andere Richtung gehen müssen.
Zwischen den Bäumen war es dunstig und schummrig. Waldgeriesel klang überlaut durch die Windstille. Aus dem nassen Boden duftete es nach altem Laub, Frühling und Terpentin. Bei jedem Auftreten sank ich ein wenig ein, aber jetzt konnte ich besser mit der Seifenblase umgehen: Meine Schritte waren lautlos, ich ging mit gestrafften Schultern, atmete bedächtig und schob die Füße vorwärts, als seien Räder darunter. Die kühle Luft tat meiner geschwollenen Wange gut.
Vor einem hellen Stamm blieb die Dame stehen. Ich glitt ein wenig zur Seite und kauerte mich hinter ein paar Heidelbeersträucher. Nicht, daß ich noch damit gerechnet hätte, daß sie sich umsieht. Aber ich wußte, daß wir am Ziel waren.
Die Dame öffnete ihre Handtasche und nahm den Brief heraus. Mit einer anmutigen Bewegung ließ sie sich auf die Knie nieder und steckte ihn in den Boden. Dann nahm sie den Hut ab, hielt ihn mit beiden Händen vor der Brust und verharrte in dieser Haltung so lange, daß ich mich hinsetzte.
Es war ganz still. Das Pochen in meinem Kiefer war nicht mehr schmerzhaft, sondern beruhigend. Ich saß weich auf seidigem Waldgras.
Plötzlich war ich unendlich müde. Vorsichtig lehnte ich mich gegen die struppigen Büsche, zog meine Kapuze über den Kopf und schloß für einen Moment die Augen.
Als ich aufwachte, war es Nacht. Ich vergaß einen wirren Traum, stand auf und sah mich nach der Dame um, aber sie war fort. Auch meine Seifenblase hatte sich verflüchtigt. Ich war allein, zurückgelassen mit nassem Hintern, steifem Rücken und knurrendem Magen, und hätte ich nicht die Ingwerstäbchen gehabt, es wäre ein sehr deprimierender Moment gewesen. Ich öffnete das Knisterpäckchen, schob mir ein Stäbchen in den Mund und aß es ganz vorsichtig, dann noch eins, sie schmeckten wunderbar. Ich aß fast alle auf. Mein Kopf wurde klar.
Der Wald war wie verzaubert. Durch die aufreißende Wolkendecke tropfte Mondlicht, wanderte über das niedergedrückte Gras, verschwand, kam zurück und verflocht sich in Heidelbeerzweigen.
Einmal fiel es voll auf den blassen Stamm, vor dem die Dame gekniet hatte, und ließ ihn aufleuchten. Ich ging hin und berührte das glatte Holz: Es fühlte sich zart an, wie Schlangenhaut, wärmer als meine Hände, ein sehr eigenartiger Stamm war das und mit Sicherheit keine Sorte, die ich kannte. Er war sehr hoch und nackt wie ein Telegraphenmast, doch er lebte: Ganz oben trug er eine kleine Krone aus regelmäßig gewachsenen Ästen, die weniger belaubt als gefiedert aussahen.
Als der Mond wieder hinter Wolken verschwand, ließ ich den Baum, ging in die Hocke und suchte den Brief. Ich hatte mir die Stelle gemerkt, sonst hätte ich lange suchen müssen, denn er war vollständig im lockeren Boden verborgen. Trotzdem war er nur an den Außenseiten feucht und die Tinte nicht verlaufen.
Das Mondlicht war zu unstet, ich mußte mein Feuerzeug zu Hilfe nehmen und wunderte mich, denn der Brief war in Englisch geschrieben. Ich las:
Dear Mr. Presley!
You are fine. Everyone still knows your name. Your music is not forgotten. Today I heard one of your songs on my radio. People still call you: The King. Many love you. Your family is rich. Everyone you loved still owns a fortune.
I am fine too. Money is tight, but I manage. Today I had a splendid breakfast with two eggs and butter. Unfortunately, I broke my favourite plate. You know how weak my hands are these days. Even writing seems harder. But all your paperwork is done for the summer.
Yesterday the mayor …
Es folgte ein Absatz über die Ferenberg-Vernissage, danach beschrieb sie, immer in kurzen Schulbuchsätzen, Nebensächlichkeiten wie den Pyjama, den sie sich gekauft hatte (for the most decent summer dreams).
Das Feuerzeug wurde heiß, ich überflog ein paar Zeilen und blieb an den letzten hängen:
Please pay for my coffee.
Forever yours,
Sophie.
Es überlief mich. Erstmal warf ich das Feuerzeug hin, weil es mir den Daumen verbrannte. Bis sich meine Augen wieder an das Mondlicht gewöhnt hatten, sah ich wilde Kringel aus dem Papier hervorzucken, dann, langsam, nahmen die Buchstaben erneut Gestalt an.
Pay for my coffee.
Ich starrte den Satz an und fühlte mich ertappt. In flagranti erwischt bei einer Sünde, deren Verabscheuungswürdigkeit ich anderen predige: Ich hatte das Briefgeheimnis verletzt.
Hastig faltete ich den Bogen wieder zusammen und versuchte, ihn an denselben Platz zurückzustecken. Es gelang mir nicht, altes Laub war im Weg, ich scharrte eine Handvoll davon heraus und erschrak noch mehr: Es war Papier, Papierfetzen.
Ich legte den Brief hin und grub mit beiden Händen weiter, schaufelte schließlich auch neben und hinter mir herum und förderte immer mehr Papier zutage. Der ganze Boden unter dem Baum schien daraus zu bestehen, eine gebräunte Fetzenschicht über der andern, zusammengepreßt und ineinandergewachsen, die tieferliegenden zog ich klumpenweise heraus, sie zerfielen, sobald ich sie losließ.
Plötzlich kam von oben ein weiches, schnaubendes Geräusch; es klang, als werde ein Samtumhang ausgeschüttelt. Als ich aufsah, erkannte ich, daß es aus der Baumkrone kam. Ein Schauder ging hindurch, ließ die Äste erzittern und lief die Zweige entlang bis in die Spitzen. Die feinen Triebe schwirrten gegeneinander, rieben und streckten sich.
Ich fuhr mir über die Augen. Der Baum hatte sein Gefieder aufgeplustert! Und jetzt kamen kleine, leuchtende Flöckchen daraus hervor und rieselten herab, sie fielen langsam, drehten sich und funkelten dabei, wunderschön sah das aus. Es waren viele, sie tanzten umher, die Luft war voll von ihnen, schon landeten die ersten sacht auf meiner Stirn. Ich wischte sie weg, sie blieben an meiner schmutzigen Hand hängen, auch in meinem Haar, kaum fühlbar, leicht wie Asche. Einige schimmerten auf den Papierfetzenhäufchen, aber die meisten erreichten den Boden nicht, sondern legten sich an den Stamm, immer neue kamen hinzu und blieben haften, flirrend und bebend, bis das Holz von Glanz und Schimmer überzogen war.
Das Feuerzeug lag neben meiner Tasche, ich hob es auf und beleuchtete meine Handfläche. Pailletten klebten daran, winzige Pailletten!
Ich hielt die Flamme nah an den Stamm, fast schien es, als reckten die Splitterchen sich ihr entgegen, und jetzt sah ich auch ihre Farben, so viele Farben, prachtvoll wie ein Königsmantel; mein Flämmchen spiegelte sich darin, wurde tausendfach zurückgeworfen und flimmerte vor meinen Augen wie Sprühnebel, wie Blütenstaub. Und kurz bevor ich mir abermals den Daumen verbrannte, drang ein Ton aus dem Baum hervor, der alle diese Farben hatte und mich nach Hause schickte, mit einer Autorität, die ich nicht hinterfragen wollte.
Ob ich den Brief einfach liegengelassen oder wieder eingegraben habe, kann ich nicht sagen; ich erinnere mich kaum an den Heimweg und kann nur vermuten, daß ich dafür weniger Zeit brauchte als für den Hinweg. Was ich noch genau weiß, ist, daß die Stadt mir eigenartig, abwesend vorkam, als habe sie ihre Stimme vergessen und lausche stattdessen einem Geisterchor.
Fremd erschien mir auch meine Wohnung, das Seufzen der Tür erschreckte mich ebenso wie mein Spiegelbild im Korridor. Tatsächlich sah ich schlimm aus, dreckig und verwüstet, die Wange war immer noch dick. Ach, mein dreißigster Zahn! Den hätte ich jetzt doch gern wenigstens in der Hand gehabt.
Meine Augen blickten so irr, daß es geradezu komisch war in diesem grundsätzlich nüchternen Zustand. Nach ein paar Minuten vor dem Spiegel gab sich das, ich lächelte mich probehalber an, das tat gut, alles war gut, ich war zu Hause. Ausziehen, ins Bett fallen, rauchen: Alles andere konnte ich verschieben.
Als ich die Jacke öffnete, mußte ich feststellen, daß ich darunter ein T-Shirt trug, das ich nicht kannte. Es war schwarz und paßte perfekt. Auf der Brust war ein blaugrüner Schriftzug:
Some idiot went to Graceland, and all I got was this lousy T-Shirt.
Dieses T-Shirt besitze ich jetzt schon fast zwei Jahre lang. Manchmal ziehe ich es an, aber nur zu Hause; ich trage es dann beim Kochen, beim Schreiben oder beim Musikhören. Eigentlich würde ich auch gern damit ausgehen, aber bisher habe ich mich nicht getraut. Bestimmt kämen Fragen, was würde ich antworten?
Es ist nicht so, daß ich nichts erfinden könnte. Schämen müßte ich mich dafür auch nicht, denn Fragen, die Kleidungsstücke betreffen, soll man nicht überbewerten. Wesentlich ist vielmehr, daß ich diese Geschichte zwar aufgeschrieben habe; wollte mich aber jemand direkt danach fragen, ich wäre mir nicht mehr so sicher.