Merhaba
Ich könnte jetzt sagen: Als das Telefon klingelte, wußte ich sofort, daß etwas passiert war. Aber ich hatte gerade gebadet, tanzte in der fremden Wohnung und besah mir den Inhalt der Küchenschränke. Das uralte Kofferradio auf dem Fenstersims spielte Cape Magic, den besten Sender der Stadt, und ich dachte: Oh, Telefon!
„Paul hat einen Unfall gehabt! Nicht seine Schuld, aber ein paar Knochen sind gebrochen, mit Arbeit war natürlich erstmal Schluß …“
Mateo war der Zirkusmanager. Wenn er sich aufregte, klang er wie ein Maschinengewehr. Ich rannte mit dem Telefon zum Kleiderschrank und begann mich anzuziehen.
„Er hat kein Seil gehabt, aber da ging auch kein Seil vorbei! Versicherung weiß das ja nicht! Er ist im Krankenhaus, gutes Krankenhaus!“
Ich fädelte das Telefonkabel durch den Halsausschnitt meines T-Shirts, setzte mich aufs Bett und stieß die Füße in die Schuhe.
„Rippen … serien … fraktur! Da ist er mit dem Rücken auf den Träger geknallt, hätte leicht tot sein können, Glück war das, pures Glück, hat der Arzt gesagt, aber das eine Bein war auch schief, mit Versicherung ist kein Problem …“
Ich warf Pauls Zahnbürste und Rasierapparat in seinen Kulturbeutel, riß Unterwäsche und Socken aus seinem Koffer und stopfte alles in eine Stofftasche.
„Wir haben ihm gesagt, du kommst sicher sofort, er wußte gar nicht, was los ist, Gehirnerschütterung und so …“
Fenster zu. Radio aus. Schlüssel, Papiere, Geld.
„Hast du gewußt, daß man davon auch schrecklich kotzen muß?“
Das Buch, das Paul gerade las, lag aufgeklappt auf dem Küchentisch. Ich schob es in meine Jacke.
„In welchem Krankenhaus liegt er denn?“
„Sisters of Mercy!”
Unten erwischte ich sofort ein Taxi. Routiniert schlängelte sich der Fahrer durch den Abendverkehr, hupte und fluchte beständig und voller Gleichmut; mit einer schweren Hand hielt er das Lenkrad, die andere ließ er aus dem Fenster hängen und trommelte ab und zu gegen das Blech der Fahrertür. Ich saß auf der Rückbank und dachte an Pauls gebrochene Knochen. Wie viele Knochen würde er sich noch brechen? Immer, wenn es am schönsten war, brach er sich einen Knochen.
Im Wagen war es heiß. Ich schloß die Augen, hörte dem Fahrer beim Fluchen zu und verstand jedes Wort.
Die Fahrt dauerte lange. War dieses Krankenhaus so weit weg? Ich beugte mich vor, tippte dem Fahrer auf die Schulter. Er drehte sich halb um, ich konnte das Öl in seinem Haar riechen.
„The hospital, how far to go?“
„Ah, very near, Lady, very near now! Two minute, three minute!”
Wir fuhren an schäbigen Häusern vorbei, handgemalten Schildern, einem Hinterhofschrottplatz. Glasscherben und Papier lagen auf dem Bürgersteig.
„Is this the right way?”
„Oh yes, Lady, yes! Very right! It’s just over there, Sisters of Mercy, very near, two minute!”
Zehn Minuten vergingen. Es gab keine Straßenlaternen. Jeder Verkehrslärm hatte aufgehört. Über der Straße neigten sich die Häuser einander zu, die höchsten berührten sich fast.
„Listen, this can’t be the right way!”
Statt einer Antwort schaltete mein Fahrer die Scheinwerfer an, kurbelte die Scheibe hoch und trat so heftig aufs Gaspedal, daß der schwere Wagen vorwärtssprang. Ich wurde zurückgeworfen und an die Polster gedrückt, schwarzgraue Fassaden mit toten Fenstern glitten beängstigend nah und immer schneller an uns vorüber. Plötzlich zuckten Lichter auf und waren im selben Moment vorbeigeflogen. Ich glaubte, jemanden rennen zu sehen, und schrie, als wir gegen etwas Weiches und Nachgiebiges prallten. Dann kreischten die Bremsen, das Auto schlingerte, schrammte an einer Hauswand entlang.
Glas splitterte. Wir standen.
Der Fahrer drehte sich zu mir um, die Augen aufgerissen, seine Wange blutete.
„You alright, Lady?”
Pauls Socken waren aus dem Stoffbeutel gerutscht. Ich hob sie auf und betrachtete sie.
Eine haarige Hand erschien in meinem Gesichtsfeld, wurde hin- und hergewedelt.
„You alright?“
Um uns war es still. Keine Tür war aufgeflogen, kein Fenster hell geworden. Beim Aussteigen trat ich auf die Scherben eines Scheinwerfers, das Knirschen war überlaut. Weiter hinten, wo ich die Lichter gesehen hatte, hingen bunte Leuchtbuchstaben an einer fleckigen Wand: THE LATE MARIAM. Dort lag ein Mensch auf der Straße, reglos, wie mit dem Asphalt verschmolzen. Und jetzt ging auch die Tür unter der Leuchtschrift auf, gelbes Licht floß heraus; zwei Männer gingen zu dem ausgestreckten Körper hinüber, hoben ihn hoch und trugen ihn ins Haus. Im selben Augenblick sprang der Fahrer aus dem Taxi, rannte laut rufend an mir vorbei zu der sich schließenden Tür und erreichte sie gerade noch rechtzeitig, um sich, Schulter und Hüfte voraus, hindurchquetschen zu können.
Nach einer Weile holte ich meine Jacke aus dem Auto und folgte ihm.
Nachdem ich viele Minuten lang geklopft hatte, wurde die Tür aufgerissen. Ein Strom von Stimmen und Musik rauschte mir entgegen. Ich stand in einem Salon. Ein gewaltiger Kristallüster hing in der Mitte und glitzerte in allen Regenbogenfarben. Der Raum war voller Menschen. Wirre, exotische Jazzklänge tönten aus großen Wandlautsprechern.
Ich lief zwischen plüschigen Sitzgruppen hindurch zur Bar und erzählte dem Barmann von unserem Unfall. Er lächelte und schüttelte den Kopf.
Ich fragte ihn, ob er das Sisters of Mercy-Hospital kenne: Lächeln und Schulterzucken. Ich versuchte die internationale Telefonpantomime und tat, als spreche ich in meinen kleinen Finger und höre dem Daumen zu: Der Barmann zeigte die Handflächen in Gesten aufrichtigen Bedauerns.
Neben mich trat ein Wüstenprinz im weißen Gewand. Um den Kopf hatte er ein blaues Tuch gewunden, sein dunkles Gesicht schimmerte. Die Augen waren schwarz ummalt, auf Stirn und Wangen trug er schwarze Zeichen. Er hob die Hand, um den Barmann zu rufen, und der weite Ärmel glitt zurück. Goldreifen klirrten aneinander.
Jetzt verbeugte er sich leicht in meine Richtung und sagte: „Merhaba!“
„Merhaba!“, sagte ich verdattert. Er lachte lautlos. Seine Zähne waren unglaublich weiß.
„Ich bin Merhaba. Mein Name. Ich tanze hier.“ Er sprach mit einem weichen, singenden Akzent.
„Ich warte auf meinen Fahrer.“
„Ah, das Taxi! Er ist zum Hospital gefahren, mit einer Dame. Ich habe es gesehen. Die Lichter am Auto waren zerbrochen.“
„Unmöglich!“
Ich drängelte mich zur Tür, lief auf die Straße. Das Taxi war fort. Die schwarzen stillen Häuser standen wie zerbrochene Felswände. Kein helles Fenster. Kein Wind. Der Himmel war nicht mehr zu sehen. War er genauso schwarz? Oder waren die Häuser oben zusammengewachsen? Ich zog den Kopf ein.
Niemand konnte von mir verlangen, daß ich allein durch diese Straße ging. Unter keinen Umständen. Ich stellte mir vor, wie ich Pauls Rasierapparat hob, um in völliger Finsternis ein namenloses Grauen abzuwehren: Nein, Paul. Das würdest du auch nicht wollen.
Plötzlich fiel mir ein, jemand könne hinter mir die Tür schließen und mich der Straße ausliefern. Rasch drehte ich mich um.
Die Tür war weit offen. Im Eingang stand der Wüstenprinz und beobachtete mich. Als ich ihn sah, war ich so erleichtert, daß ich am liebsten zu ihm hingerannt wäre.
„Das Taxi ist fort“, sagte ich stattdessen.
„Ah ja, das ist schade. Es kommt wieder ein Taxi, Madame.“
Mit einer Handbewegung bedeutete er mir, mit ihm ins Haus zu gehen. Von innen schloß er die Tür und verriegelte sie. Dann nahm er mich ganz leicht in die Arme.
„Der kranke Mann, Madame, er schläft jetzt. Morgen gehen Sie zu ihm. Gehen Sie heute Nacht nicht mehr hinaus. Es ist gefährlich.“
„Was soll ich denn tun?“ murmelte ich.
„Bleiben Sie, Madame. Beunruhigen Sie sich nicht.“
Aufmerksam sah er mich an. Ich nickte.
Da ließ er mich los und ging. Ich sah ihm nach und fühlte mich um Welten besser.
Im hinteren Teil des Salons hatte man einen Vorhang beiseitegezogen, hinter dem eine kleine Bühne war. Musiker packten Instrumente aus. Möbel wurden verschoben. Ich bestellte einen Cocktail, den ich nicht kannte, trank und hörte der Band zu. Die Band war heiß. Bald tanzten fast alle, irgendwann auch ich. Es fühlte sich richtig an.
Als die Musiker erschöpft waren, kamen andere, um sie abzulösen, zwei Trommler und eine Frau, die ein mir unbekanntes Saiteninstrument spielte. Es klang sehr seltsam, wild und traurig, dazu fast spöttisch. Niemand tanzte, aber alle hörten zu, manche wiegten sich und summten die klagenden, schnarrenden Melodien mit.
Dann betrat Merhaba durch eine Seitentür die Bühne. In einer Hand hielt er einen schmalen Dolch. Mit geschlossenen Augen begann er zu tanzen. Die Luft im Raum wurde schwül, lud sich mit Spannung auf. Jemand seufzte.
In der Bewegung verlor die Klinge ihre Kontur. Es war, als hielte Merhaba einen Blitzstrahl in der Hand, den er tanzend mal gegen sich selbst, mal gegen das Publikum richtete. Als er die Augen öffnete, hörte ich halbunterdrückte Schreie.
Ich begriff, daß der Tanz eine Bedeutung haben müsse, die ich nicht verstand. Gebannt schaute ich hin und fühlte, wie mir der Schweiß ausbrach. Alle drängten sich aneinander. Der Mann neben mir legte seinen Arm um meine Schultern und drückte mich an sich, ohne mich anzusehen. Hinter mir fühlte ich Brust und Bauch einer Frau und lehnte mich dagegen. Fremdes, duftendes Haar kitzelte meinen Hals.
Eine ungeheuerlich dicke Dame kam auf die Bühne. Merhaba ließ sich vor ihr auf die Knie nieder und küßte ihre Hände. Dann tat er, als stoße er sich den Dolch ins Herz; mit einer anmutigen Bewegung sank er zu Boden. Die Musik verstummte. Die Trommler traten vor, hoben ihn auf und trugen ihn durch die Seitentür fort.
Die dicke Frau begann zu sprechen. Sie redete lange. Ich verstand kein Wort. Aus dem Publikum wurde ihr immer wieder geantwortet, zugerufen. Ihre Stimme war voll und kehlig. Sie trug bunten Haarschmuck, der schillerte, wenn sie den Kopf bewegte, und ein zeltartiges, mit Gold- und Silberfäden besticktes Kleid.
„Das ist Mariam“, sagte Merhaba. Er stand neben mir und hielt in jeder Hand ein kleines Glas mit etwas Rötlichem darin. Als ich genauer hinschaute, bemerkte ich, daß jeder ein solches Glas in der Hand hielt.
„Was sagt sie?“
„Sie sagt, es ist eine gute Nacht. Das sagt sie immer.“
Er gab mir eines der Gläser. Ich schaute Mariam an, sie lächelte in unsere Richtung, fast schien es, als nickte sie mir zu.
Als wir tranken, schmeckte es nach nichts, aber fast sofort wurde mir auf angenehmste Weise schwindelig. Mein Herz schlug schneller, mein Nacken wurde heiß. Ich griff nach Merhabas Arm, er fühlte sich wolkig an. Vor meinen Augen zerflossen die Farben.
Der Barmann ging mit einem Korb herum und sammelte die leeren Gläser ein. Als die Band wieder zu spielen anfing, spannten sich Merhabas Muskeln unter dem Stoff. Ringsumher brach wilder Trubel los. Wir überließen uns dem Rausch und tanzten, die Zeit löste sich auf und kümmerte mich nicht mehr.
Ich erinnere mich, daß ich Merhaba den blauen Turban abwickelte, sein Kopf mit dem feuchten Haar war glatt wie der einer Robbe. Die Zeichen in seinem Gesicht waren verschmiert, einer der Trommler zog sie behutsam mit Kholstift nach.
Ich erinnere mich, daß mir der Barmann erzählte, er sei viele Monate lang gefoltert worden, weil er den falschen Göttern diente. Er zeigte mir eine Narbe, die aussah wie ein rennender Hund.
Ich erinnere mich, daß ich, als das erste Morgenlicht durch die Fensterritzen drang, an dem alten Klavier saß, ein Nocturne von Chopin spielte, tollkühn, und ohne Fehler durchkam, dabei war es das Gemeine mit den Triolen in der linken Hand.
Ich erinnere mich, daß Merhaba mich ins Tageslicht hinausführte, daß wir eine Treppe hinaufstiegen, auf einer Mauer saßen und über die Stadt sahen, die im Morgendunst ausgebreitet dalag.
„Hier werde ich immer sein“, sagte Merhaba. „Hier werde ich sein und zusehen …“
„Wobei zusehen?“ fragte ich. Die reine Luft zu atmen erfüllte mich mit unendlicher Freude.
Er antwortete nicht, saß mit geschlossenen Augen. Ich küßte ihn zum Abschied; er wandte sich mir zu und ließ es geschehen, ohne den Kuß zu erwidern.
Als ich ins dampfende Halbdunkel des Salons zurückkehrte, wurde ich unruhig. Ich betrachtete das Treiben auf der Tanzfläche. Vorhin hatte ich noch empfunden, daß inmitten dieser Menschen der sicherste Platz der Welt sein müsse, jetzt befremdete mich ihr Anblick. Das beschämte und beruhigte mich gleichermaßen.
Ich suchte und fand meine Jacke. Niemand beachtete mich. Als ich auf die verlassene Bühne ging, um meine Zigaretten vom Klavier zu holen, fiel mein Blick auf die Seitentür. Ich ging hinüber und legte die Hand auf das glatte Holz: Lautlos und leicht glitt die kleine Tür auf, ich schlüpfte hindurch und zog sie hinter mir wieder zu.
Ein schummriger Gang lag vor mir. Rechter Hand sah ich durch einen halb zugezogenen Vorhang in ein Badezimmer. Ich ging hinein, wusch mir Hände und Gesicht mit kaltem Wasser und sortierte mein Haar mithilfe eines halbblinden Spiegels. Plötzlich hörte ich geschäftige Schritte, Gummi auf Linoleum, und spähte durch den Vorhang. Neonlicht war aufgeflammt und beleuchtete grünliche Leimfarbe an den hohen Wänden eines Krankenhauskorridors. Weit hinten sah ich eine Schwester mit wippendem Hintern einen Teewagen schieben. Leiser Hall von quietschenden Sohlen wehte zu mir herüber. Es roch nach Karbol.
Langsam, vorsichtig folgte ich der Schwester. Sie sah sich nicht um, verschwand um eine Ecke. Ich ging an vielen Türen mit Nummern vorbei, vor einer blieb ich stehen.
Als ich die Klinke herunterdrückte, klickte es leise. Ich schob die Tür auf und betrat das Zimmer, und da lag Paul mit halboffenem Mund und bandagiertem Brustkorb in tiefem Schlaf. An den Ausbuchtungen der Bettdecke erkannte ich, daß eins seiner Beine dick eingegipst war. Auf dem Tischchen an der Wand stand sein Kulturbeutel, unübersehbar mit offenem Reißverschluß, daneben eine Vase mit Blumen.
Paul erwachte von meinem Blick. Schlaftrunken blinzelte er, dann riß er die Augen auf und sah mich erstaunt an. Ich holte das Buch aus der Jackentasche und legte es auf die Bettdecke.
„Ich hab dir noch was zu lesen gebracht.“
Einen Augenblick lang runzelte er die Stirn, dann lächelte er.
„Lieb von dir …“
Ich setzte mich auf den Stuhl neben dem Bett und nahm seine Hand.
„Heute siehst du schon viel besser aus“, sagte ich.