Tauchstation
Neun Jahre, sagte der Richter im Namen des Volkes.
Ich hatte mir vorgenommen, bei der Urteilsverkündung ein unbewegtes Gesicht zu machen, damit nachher in den Zeitungen stünde: Mit unbewegtem Gesicht nahm der Verurteilte …
Wir hatten nicht einmal Streit gehabt. Lebte sie noch, sie würde mir verzeihen, ganz bestimmt.
Ich kam in eine Mustervollzugsanstalt und mußte arbeiten, für einen Witzlohn stellten wir Dinge her, die draußen teuer verkauft wurden.
Wie mein Bruder es hinbekommen hatte, an diesem Mittwoch den Laster zu fahren, weiß ich nicht. Aber ich war vorbereitet.
Nachts hatte ich wirr geträumt. Sie fehlte mir sehr, auch das Pulver fehlte mir; ich wachte auf und wußte: Noch heute werde ich woanders sein.
Als der Laster abfuhr, saß ich hinten im Laderaum zwischen all diesen Gegenständen, die mir nie sinnloser erschienen waren.
Einmal drehte sich mein Bruder um und sah durch das kleine trübe Fensterchen zu mir nach hinten, er war unrasiert und trug seine Schrauberwollmütze. Sein lässig-schiefes Grinsen trieb mir fast die Tränen in die Augen; ich war geborgen wie früher, wenn er manchmal mit genau diesem Grinsen gesagt hatte: Das kriegen wir schon hin, Mama wird gar nichts merken.
Wir fuhren und fuhren. Ich schlief wohl auch ein wenig, zum Denken hatte ich keine Kraft, erst als der Laster hielt, wachte ich auf. Mein Bruder öffnete die Türen, ich stolperte ins Freie, in seine Arme; er drückte mich kurz und klopfte mir auf den Rücken. Dann hielten wir einander an den Schultern und sahen uns an.
Es war Jahre her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er sah mir ähnlicher als früher, ich hatte ihn eingeholt.
Um uns herum war Wüste. Die Straße, auf der wir standen, war schwarz, glatt und leer; der Laster tickte und zischte leise. Riesig und tiefrot hing die Sonne über dem Horizont.
„Weiß Mama, was wir tun?“
„Keiner weiß irgendwas. Du mußt eine Weile auf Tauchstation gehen. Ich habe Freunde, die dir zu einer neuen Identität verhelfen können, jemand wird dich abholen.“
„Hier abholen? Wo soll ich denn hin?“
„Mach dir keine Sorgen. Niemand wird dich finden. Ich hab noch was für dich.“
Vom Beifahrersitz nahm er ein kleines Kästchen und reichte es mir. Ich erkannte es sofort.
Noch schlimmer als Gretas Gesicht hatte es mich in meinen Träumen gelockt und gequält, sein Verlust schien der einzige, den ich nie hatte überwinden können. Während Greta in meiner Erinnerung verblassen wollte, obwohl ich mich bemühte, sie festzuhalten, war das Bild des kleinen Kastens deutlich geblieben, die verschlungenen eingeritzten Muster auf dem Deckel, der seidige Glanz, die kleine Delle an der Seite. Ich nahm ihn und strich über das alte Metall.
„Wie kann ich …“
„Warte, bis ich weg bin. Ein bißchen mußt du noch warten.“
Er ging um den Laster und schloß die hinteren Türen, stieg dann ein und startete den Motor. Ich wußte nichts mehr zu sagen, gab nur dem Laster einen Klaps. Mein Bruder winkte und fuhr los. Einfach so. Ich sah dem Laster nach und fühlte Fieber und Verlorenheit.
Kaum war ich allein mit der Wüste und der Straße, kauerte ich mich hin, stellte das Kästchen auf den heißen Asphalt und öffnete es. Nacheinander nahm ich die vertrauten Gegenstände heraus, das polierte Stahlplättchen, die Klinge, das silberne Röhrchen, zum Schluß die winzige Dose, in der ein weißlich schimmernder Pulverstein lag.
Mit einer Hand hielt ich den Stein auf dem spiegelnden Stahl, mit der anderen führte ich die Klinge, und langsam schabte ich Flocke um Flocke ab. Wie winzige Fischschuppen, perlmuttfunkelnd, lagen die weichen Kristalle auf der glänzenden Oberfläche, ein schwacher Geruch von Äther und Ammoniak stieg mir in die Nase und vermischte sich mit dem Duft der sonnensatten Straße.
Mit der Klinge zog ich das Häuflein zu zwei sauberen Linien auseinander, zügig aus dem Handgelenk, als sei Greta bei mir und sähe atemlos zu.
Ich schloß die Augen und fühlte, wie meine Sinne klar wurden, wie ich erwachte und mich erinnerte. Glück durchströmte mich so heftig, als wolle es mich töten.
Zuerst nahm ich Gretas Linie, dann meine; beim Ausatmen hörte ich mich leise stöhnen und mußte lächeln, als mir einfiel, was Greta dazu gesagt hätte.
Ich leckte Stahl und Klinge ab, wischte sie an meiner Arbeitshose blank und verstaute Stein und Werkzeuge im Kästchen. Dann stand ich auf, drehte mich zur Sonne und sah hinein.
Als die Sonne den Horizont berührte, spürte ich den Einschlag zwischen den Augen. Die Woge riß mich aus mir heraus und fort, ich hörte Flügelschlagen, rauhe Krähenstimmen und darüber einen singenden, mächtigen Ton, der direkt aus der Sonne kam. Die Rotglut am Horizont floß auseinander, löste die klare Linie auf und verschmolz mit der Erde, bevor sie von ihr verschluckt wurde. Das Land atmete den Tag aus, die Nacht kam; wie ein weiches Tuch legte sie sich um meine Schultern.
Ich stand zeitlos, wunschlos, blicklos. Gedanken glitten durch meinen Kopf, lösten sich auf, um in anderer Gestalt wiederzukehren. Greta stand hinter mir, ich fühlte ihren Rücken an meinem, ganz leicht an mich gelehnt stand sie und sah in die andere Richtung, ausschauhaltend, wartend. Sie verstand alles.
Unendlich lange stand ich so. Es wurde kühl. Meine Beine waren Säulen auf dem Asphalt. Ich hob eine davon an, setzte sie wieder auf, hob die andere. Es war leicht, jeder Schritt schien leichter als der vorherige; ich konnte zum Rhythmus meines Herzschlags auf der unbekannten Straße gehen, großartig fühlte sich das an. Ein wilder, aufregender Geschmack war hinten in meinem Mund.
Irgendwann wurde es schwer. Die Euphorie hatte sich verflüchtigt, ich spürte, wie müde ich war. Vom Marschieren taten mir die Beine weh, ich war durstig und hatte nichts zu trinken. Als ich stehenblieb, kroch die Kälte mein Rückgrat hinauf.
Daß der Pfahl am Straßenrand eine Bushaltestelle war, begriff ich erst nach einiger Zeit.
Ich setzte mich auf das Geröll neben der Straße, lehnte mich an das rauhe Holz, zog die Beine an und schlang die Arme um die Knie.
Es wurde immer kälter. Meine Zähne schlugen aufeinander. Ich schloß die Augen und dachte an die Sonne und an Greta und das Pulver. Gern hätte ich noch etwas davon genommen, ließ es aber sein, weil ich wußte, daß es die Kälte noch verstärken würde.
Während ich mich noch fragte, ob ich an dieser Bushaltestelle sterben werde, schlief ich ein.
Als ich erwachte, war es immer noch Nacht. Ein Geräusch hatte mich geweckt, ein vertrautes Geräusch: eine Fahrradklingel. Das Fahrrad stand direkt vor mir, seine schwarze Kettenabdeckung war das erste, das ich sah.
Ich sprang auf meine tauben Füße und blickte um mich: Da war niemand. Die Arme um mich schlagend ging ich ein Stück in die Wüste hinaus, spähte in alle Richtungen, rief sogar.
Plötzlich hörte ich die Klingel wieder, fast so nah wie vorher, bekam einen furchtbaren Schreck und tat einen Sprung, dabei fiel ich fast über das Fahrrad, das gerade lautlos herangeglitten kam und neben mir stehenblieb. Da begriff ich, daß es gekommen war, um mich abzuholen.
Ich faßte den Lenker und schob es zur Straße zurück. Dabei fiel mir auf, wie alt es war, es erinnerte mich an das Fahrrad meines Vaters, das er immer auf den Schultern die Treppe hinaufgetragen und im Korridor abgestellt hatte, wenn er nach Hause kam.
Ich stieg auf und trat in die Pedale, es kostete keinerlei Kraft. Trotz des Fahrtwinds fror ich nicht mehr und hatte das Gefühl, gleichzeitig im Sattel zu sitzen und auf einem Sofa zu liegen, das ruhig stand, während die Straße darunter vorbeizog. Ich schloß die Augen wieder, mir wurde warm und wohlig, und so lag oder fuhr ich lange Zeit.
Richtig wach wurde ich erst, als die Morgensonne mir auf den Rücken brannte und ich mich in den Pedalen aufstellen mußte, um die letzte Steigung zu schaffen.
Als ich oben war, stieg ich ab, ließ das Fahrrad umfallen und setzte mich ins feuchte Gras.
Die Sonne stand schon hoch, es mußte gegen zehn Uhr sein; vor mir lag ein kleines Dorf, gerade läuteten die Kirchenglocken. Frischer Wind trug den Klang über das Tal und kühlte mein Gesicht und meine Arme. Aus dem Wäldchen aus Birken und krummen Kiefern, das hinter mir lag, duftete es nach Harz und erwachendem Waldboden. Kleine Himbeeren wuchsen am Wegrand.
Eine alte Frau kam den Weg hinauf und blieb vor dem Fahrrad stehen.
„Nanu, Henriette! Wo hast du denn unseren Gast gelassen?“
Sie sah zu mir herüber, ich stand auf und fuhr mir durchs Haar, weil mir bewußt wurde, wie schäbig ich aussah, und schämte mich.
„Das ist aber schön, daß du endlich da bist! Laß dich ansehen!“
Ich ließ mich ansehen. Im Dorf läuteten die Glocken schon wieder.
„Wir haben alle mit dem Frühstück gewartet!“
Wie im Traum ging ich hinter ihr her. Sie trug mehrere Röcke übereinander. Ihre Knöchel quollen über die Ränder ihrer Schuhe. Das Fahrrad ließen wir liegen.
Sie führte mich zu einem schönen alten Bauernhaus mit einem stattlichen Krüppelwalmdach und vielen kleinen Fenstern, von denen die meisten offenstanden. Eine große Scheune stand im spitzen Winkel zum Haus, das Tor weit geöffnet; ich sah einen alten roten Traktor und verschiedene Ackergeräte.
Auf der untersten Stufe der Sandsteintreppe zur Haustür lag ein Kater mit dickem Kopf und zerfledderten Ohren. Sein rechtes Auge fehlte, mit dem linken blinzelte er mich an und wandte sich dann gähnend ab.
Die Alte schloß die Tür auf und blieb im Rahmen stehen. Ich ging an ihr vorbei in den kühlen, dunklen Flur. Es roch nach Äpfeln, altem Holz und Kaffee. Wie ein Bär erwachte mein Magen.
In der geräumigen Küche stand ein schwerer Holztisch, an dem zwei andere alte Frauen saßen. Als sie mich sahen, stemmten sie sich hoch und kamen auf mich zu.
„Das ist sie also! Ein schmuckes Mädel bist du ja!“
Ich sah sie fassungslos an.
„Wie Milch und Blut! Milch und Blut! Du meine Güte!“
Eine faltige, schwielige Hand streckte sich nach meinem Gesicht aus, und bevor ich ausweichen konnte, hatte sie mich in die Wange gekniffen.
„Heh! Was soll denn das!“
Die andere Vettel tätschelte meine Schulter.
„Aber ganz verhungert sieht sie aus!“
„Na, dem kann abgeholfen werden! Setz dich, Kind, setz dich! Alles steht bereit!“
Jetzt kam noch die erste, die mich abgeholt hatte, von hinten an mich heran und schob mich auf den Tisch zu.
Wo war ich hingeraten? Das konnten unmöglich die Freunde meines Bruders sein. Das war ein Irrenhaus!
Sechs Hände befühlten mich, zogen an mir, schoben, drängten.
Ich wehrte mich, schüttelte eine, die besonders dreist unter mein Hemd gewandert war, ab, schlug eine andere fort, die meinen Arm umklammert hielt, stieß mit dem Ellbogen. Ganz plötzlich ließen sie von mir ab.
Die Älteste, die, die mich abgeholt hatte, stand vor mir und sah mich von unten herauf mit schiefgelegtem Kopf lauernd an. Ihre Augen waren schwarz wie Vogelaugen, aber trüb, verhangen; ich bekam Angst, als ich hineinsah.
Etwas geschah mit mir.
„Geh zu deinem Platz, Mädel, und setz dich!“
Da mußte ich zu meinem Platz gehen und mich setzen.
Wortlos stellte die Alte eine Schüssel vor mich, die mit dampfenden braunen Klumpen gefüllt war. Ich stocherte vorsichtig darin herum, da fuhr sie mich an:
„Iß!“
Da mußte ich essen.
Ich nahm einen Klumpen in den Mund und schmeckte Erde, Lehm mit kleinen Steinchen darin, die zwischen meinen Zähnen knirschten. Der trockene dumpfige Geschmack würgte mich im Hals. Ich spuckte auf den Tisch.
„Das kann ich nicht essen!“
„Denkst wohl, dein Gaumen sei in der Stadt zu fein geworden, und jetzt will das gute Essen nicht mehr schmecken! Das ist nichts nütze! Na, wenn sie hungern will, soll sie hungern! Ich und meine Schwestern, wir werden jedenfalls hübsch satt werden.“
Alle drei begannen zu essen. Sie schmatzten und schlürften und löffelten Unmengen der Klumpen in sich hinein. Hungrig sah ich zu und glaubte Brot und warme Milch zu riechen.
Nach dem Frühstück mußte ich den Tisch abräumen und das Geschirr abwaschen. Die Alte saß am Tisch und beobachtete mich.
„Ein Teller hat zwei Seiten, Täubchen, die wollen beide gespült werden!“
„Was haben Sie mit mir gemacht?“
„Ja, ja, du mußt viel lernen! Dein Mann soll sich ja nicht beschweren müssen über seine kleine Braut! Der würde ein Gesicht machen, nicht wahr, wenn er merken würde, daß das Mädel nicht einmal Teller spülen kann!“
„Sind Sie blind? Sind hier alle verrückt? Haben Sie mir Drogen gegeben?“
Sorgfältig spülte ich die Unterseiten aller Teller noch einmal ab.
„Ja, den hast du ja als Kind schon immer so angesehen, denkst wohl, weil ich alt bin, hab ich das vergessen!“
„Hat das mit meiner neuen Existenz zu tun? Haben Sie mich hypnotisiert?“
Ich stellte die sauberen Teller auf das Abtropfbrett neben dem Wasserstein.
„Auch an einem Tag kann man viel lernen, Kind! Mach dir keine Sorgen! Er wird sehr stolz auf dich sein! Nur immer den Rücken geradehalten!“
Ich richtete mich auf. Mein Rücken schmerzte.
„Ich bin zu groß für diese Spüle!“
Die Alte kicherte fast tonlos in sich hinein.
Nachher wurde ich aufs Feld geschickt, um Kartoffeln für das Abendessen zu holen.
„Jetzt gibt’s doch noch gar keine Kartoffeln!“
„Nein, sowas essen wir hier nicht! Wir machen eine gute Suppe daraus, und du wirst mir dabei helfen.“
„Hören Sie mir überhaupt zu?“
„Mußt ja gar nicht alleine gehen beim ersten Mal. Henriette begleitet dich und zeigt dir, wie man es richtig macht.“
Sie gab mir einen leichen Schubs. Da mußte ich gehen.
Als ich aus dem Haus trat, stand da das Fahrrad. Mißtrauisch sah ich es an.
„Henriette?“
„Nun mach schon, Mädel! Wirf die Beinchen, der Tag dauert nicht ewig!“
Ich stieg auf und trat in die Pedale, es kostete keinerlei Kraft. Wir fuhren durchs Dorf. Menschen gingen in den Straßen umher. Ich konnte weder bremsen noch den Lenker loslassen, auch meine Füße waren an den Pedalen festgewachsen. Die ganze Zeit schrie ich aus Leibeskräften.
„Helfen Sie mir! Ich bin entführt worden!“
Die Leute winkten und lachten.
„Halten Sie das Fahrrad an! Rufen Sie die Polizei!“
Ein Mann, der am Brunnen einen Eimer füllte, drehte sich um und rief:
„Ho, die Gretel! Kennst mich noch, du Sausewind?“
Bevor ich antworten konnte, waren wir vorbeigefahren.
Ich kämpfte wie ein Wahnsinniger, um Hände und Füße freizubekommen, aber es half nichts. Ich weiß nicht, wohin meine Kraft verschwand, wenn ich es versuchte. Nach einer Weile war ich völlig erschöpft und mußte aufgeben. Keuchend saß ich im Sattel, sah auf meine gefangenen Hände und meine Knie, die sich hoben und senkten, und fühlte mich wie in einem Traum verloren.
An einem langen, schmalen Feld war die Fahrt zu Ende. Ich konnte das Fahrrad loslassen und absteigen.
Sofort rannte ich. Tatsächlich kam ich auch einige hundert Meter weit, aber dann war mit meinen Füßen plötzlich Schluß, als seien sie mir abgeschossen worden. Ich fiel hin.
Als ich mich aufsetzte, kam das Fahrrad gerade herangeglitten und blieb neben mir stehen.
In mir riß etwas. Unsicher kam ich auf die Knie und streckte die Hände aus.
„Bitte hilf mir, Henriette!“
Sie half mir auf und führte mich zum Feld zurück. Es war braun und leer.
„Wo sind jetzt diese Scheißkartoffeln!“
„Du mußt nur buddeln.“
Ich buddelte. Aber ich fand nur Steine und Holzstückchen.
„Ich helf dir ’n bißchen.“
Henriette kniete sich neben mich. Sie trug eine helle, an den Säumen bestickte Bluse, einen weiten braunen Rock und derbe Bergstiefel, aus denen gelbe Wollstrümpfe hervorsahen. Ihr braungebranntes Gesicht war sanft. Mit einer anmutigen Bewegung schob sie ihre Ärmel zurück.
Als sie sich vorbeugte, um in der frisch aufgebrochenen Erde zu graben, stahlen sich kleine Löckchen aus dem hellblauen Kopftuch und fielen ihr in die Stirn. Sie begann Steine in ihre Schürze zu sammeln.
„Du, Henriette?“
„Ja?“
Sie hatte eine zauberhafte Stimme, warm und angenehm, es war, als sänge sie jedes Wort.
„Kannst du mir nicht helfen, von hier fortzukommen? Ich glaube, man hat mich verhext.“
„Aber was redest du denn! Vor dem brauchst du doch keine Angst haben! Das ist ein ganz Lieber!“
„Jetzt fängst du auch schon damit an!“
Sie hörte auf zu graben und wandte sich mir zu. Hübsche, starke Zähne blitzten, als sie lachte.
„Aber womit denn, Gretel?“
„Warum nennen mich alle so?“
„Komm, wir haben genug! Laß uns heimgehn!“
„Verwandelst du dich dann wieder in ein Fahrrad, ja? Muß ich wieder an dir festwachsen?“
Sie sah mich erstaunt an und lachte dann los. Ihr Lachen war herrlich.
„Fahrrad! Nein, so ein Unfug! Wo nimmst du das nur her, immer diese Geschichten!“
Wir gingen nach Hause. Der Hof lag im Schatten. Der Kater war auf die oberste Stufe der Treppe umgezogen, wo noch Sonne hinfiel.
In der Küche war es heiß. Es roch nach Zwiebeln und Sellerie. Die Vetteln hatten den Ofen geschürt, saßen am Tisch und schnitten Holzstückchen und erdige Wurzeln. Ein großer Topf voller Wasser dampfte auf dem Herd.
„Endlich! Nur hurtig die Kartoffeln her!“
Henriette ging zum Tisch und ließ die Steine auf die Holzplatte kullern.
„Wollt ihr das etwa kochen? Ich werde hier verhungern!“
Die Älteste sah mich an. Mein Kopf wurde leer. Ich starrte in ihre Vogelaugen.
„Wie konnte ich das nur vergessen! Rasch, zeig sie her, ich bin ja schon ganz neugierig!“
Meine Hand fuhr in meine Tasche und holte das Kästchen heraus. Sie nahm es aus meinen hilflosen Fingern, öffnete es und sah lange hinein.
„Wunderhübsch, Kind! Eine schöne Arbeit!“
Ich mußte zusehen, wie sie das Kästchen zuklappte und zwischen den Falten ihrer vielen Röcke verschwinden ließ.
„Besser, wenn ich darauf aufpasse, nicht wahr? Am Hochzeitstag bekommst du’s zurück, bin schon gespannt, was für Augen der Heiner machen wird!“
Sie wandte sich ab. Ich konnte mich wieder bewegen und mußte helfen, Steine, Holz und Wurzeln zu einer Suppe zu kochen. Dann schrubbte ich den Tisch und deckte ihn. Ich hatte Hunger wie ein Wolf.
Als das Gebräu vor mir in der Schüssel dampfte, roch es so wunderbar nach Kartoffelsuppe, daß ich probieren mußte. Ich schmeckte heiße Erdbrühe mit Steinchen und Holzfasern und wollte wieder auf den Tisch spucken, da fühlte ich unter dem Tisch einen Fuß an meinem Bein, und Henriette sagte:
„Probier’s halt!“
Da mußte ich schlucken.
Ich würgte, mein Magen krampfte sich zusammen, ich riß die Augen auf; da plötzlich schmeckte ich Sellerie und Zwiebeln, Kräuter und Butter. Ich fuhr wieder mit dem Löffel in die Suppe, schlürfte, schmatzte und schluckte wieder und wieder, bis meine Schüssel leer war. Danach bekam ich kaum noch Luft; die Tränen liefen mir übers Gesicht.
„Na, da schaut her, jetzt lacht sie! So eine gute Suppe hat sie in der Stadt sicher nicht bekommen!“
Als ich das Geschirr spülte, bemerkte ich, daß mir die Spüle nicht mehr zu niedrig war. Das war viel besser, so konnte ich den Rücken geradehalten.
Als ich fertig war, ging ich hinaus, die Alte zu suchen. Sie saß auf der Bank im Hof und rauchte aus einer kurzen, stinkenden Stummelpfeife.
„Großmütterchen, darf ich dich um etwas bitten?“
„Aber natürlich, mein Täubchen!“
„Kann ich das Kästchen heute nacht noch einmal mit in meine Kammer nehmen?“
„Eine Romantikerin bist du! Na, dann nimm es halt mit und leg’s unter dein Kopfkissen, vielleicht bringt’s ja Glück in deiner letzten Mädchennacht!“
Sie holte das Kästchen aus den Tiefen ihrer Rockfalten und hielt es mir hin. Als ich danach griff, fiel mein Blick auf meinen Arm, und da war es ein Mädchenarm mit Sommersprossen und zartem blondem Flaum, der aus einem Rüschenärmel hervorkam.
Ich sank in die Knie und vergrub meinen Kopf in den Röcken der Großmutter.
„Ich will das alles nicht! Ich kenne doch den Heiner gar nicht!“
Ihre Finger fuhren durch mein Haar. Sie schnalzte leise mit der Zunge.
„Na, na, nicht doch weinen, mein Kind. Wir alle haben das durchgemacht. Ein junges Herz geht leicht fehl, darum treffen kluge alte Köpfe die Entscheidungen.“
„Aber wenn er mich nun gar nicht will! Ich weiß doch nicht einmal, was ich machen soll!“
„Das wird die Natur schon richten, so ist es schon immer gewesen!“
Ich fühlte mich getröstet. Die Alte klopfte ihre Pfeife am Fuß der Bank aus. Die Abendglocken läuteten.
Abends, in meiner Kammer, betete ich lange vor der kleinen Madonna in der Nische und bat sie um die Kraft, mein Schicksal anzunehmen, meine Bürde zu tragen und meinen Gatten so zu lieben, wie er es verdiente. Danach schob ich das Kästchen unter mein Kopfkissen, zog mein Nachthemd an und schlüpfte unter die schwere, kühle Daunendecke.
Ich träumte davon, wie ich mit Heiner versucht hatte, die bunte Kuh des Nachbarn zu reiten. Wie der mit dem Stock hinter uns hergerannt kam, und wie er dabei fluchte! Wir rannten wie die Hasen, blitzschnell kletterten wir über den Zaun, dabei riß ich mir die Haut auf. Später im Wald legte Heiner ein Blatt auf den Kratzer.
Am Morgen meiner Hochzeit frühstückten wir im Hof, danach half mir Henriette, das Kleid anzuziehen und den Schleier zu richten. Die Glocken läuteten den ganzen Morgen.
Als wir vor der Kirche ankamen, war das ganze Dorf versammelt. Gerade kam von der anderen Seite der Festzug mit dem Bräutigam. Ich verdrehte den Kopf, um durch den Schleier besser sehen zu können.
Als wir vor dem Altar standen und der Pfarrer die Worte gesprochen hatte, nahmen wir die Ringe aus dem Kästchen, sie paßten genau. Dann küßten wir uns.
Später, wir standen auf der Kirchentreppe und sahen zu, wie Blumen und Hüte flogen, raunte mir Heiner ins Ohr:
„Willst du mit mir in die Stadt ziehen, ein ganz neues Leben anfangen?“
Ich fiel ihm um den Hals.
Wir zogen in die Stadt. Heiner fand eine gute Arbeit, und wir konnten eine schöne Wohnung mieten, deren Einrichtung ich selber aussuchen durfte. Ich begann auch zu lesen, weil Heiner meinte, daß eine Frau nicht nur kochen und putzen soll, und lernte tanzen. An Samstagen führte Heiner mich oft aus, denn er hatte viele interessante Menschen kennengelernt; oft kamen seine Freunde auch zu Besuch und saßen dann die ganze Nacht im Wohnzimmer, um über Leben und Tod zu diskutieren. Manche brachten Frauen mit, aber die wenigsten von ihnen waren verheiratet; sie erschienen mir als geheimnisvolle Paradiesgeschöpfe, geschminkt und geschmückt.
Neulich brachten seine Freunde ein Pulver mit und schnupften davon, um schneller denken zu können. Als sie Heiner auch etwas davon anboten, regte sich etwas in mir, das ich niemals zuvor gefühlt hatte. Rasch stand ich auf, ging hinter Heiners Stuhl und packte seinen Arm; da nickte er und sagte: „Warum nicht!“
Auf unserem Silbertablett lag ein silberweißes Häufchen. Ein seltsamer, scharfer Geruch ging davon aus, und es glitzerte wie Muschelstaub.
Einer zog es mit einer Klinge zu sauberen Linien auseinander. Atemlos sah ich über Heiners Schulter hinweg zu.
Als Heiner das Röhrchen zwischen die Finger nahm und sich vorbeugte, schloß ich die Augen, um die Spannung und das Summen im Kopf auszuhalten.
Mit einem kurzen Zischlaut zog Heiner das Pulver in seine Nase. Beim Ausatmen hörte ich ihn leise stöhnen, als seien wir allein im Bett. Ich riß die Augen auf, das komische Gefühl verflog, meine Wangen brannten.
„Tu das doch nicht vor allen Leuten!“
Da lachte die ganze Gesellschaft so laut los, daß ich in unser Schlafzimmer floh.
Durch die geschlossene Tür hörte ich Heiner mit den anderen über Leben und Tod reden. Was sie sagten, verstand ich nicht, und es war mir auch egal. Ich las noch ein wenig und schlief dann ein.
Später, viel später, kam Heiner ins Schlafzimmer und warf sich über mich, zerrte an meiner Wäsche und meinen Haaren. Er war wie außer sich, versuchte mich grob zu küssen und redete Sachen, die ich gar nicht verstand. Ich wurde zornig und wehrte mich, aber da wurde er noch heftiger, ich kannte ihn gar nicht mehr! Ich schrie ihn an, er solle aufhören, da holte er aus, um mich zu schlagen.
Plötzlich verstand ich alles. Mein Zorn verflog, ich legte ihm die Arme um den Hals, zog ihn über mich und schlang meine Beine um seine Hüften. Ich dachte an die heilige Madonna und an Henriette und Großmutter und war ein Feld, auf das ein leichter Regen fiel.