Tunnel
Ohrfeigen könnte ich mich, daß ich zu dieser Gesellschaft überhaupt gegangen bin. Alle Götter zürnen mir, ich merke es deutlich im Oberbauch.
Die Gastgeber waren reizend, ihre Ansichten korrekt, ihr Essen gesund. Ein gepflegter, wohlgeformter Mann machte mir artig den Hof, Hauptthema: Seine äußerst vielversprechende Zukunft, eine Strategie, mit der manche Menschen ihren latenten Mangel an Gegenwart charmant zu verschleiern wissen. Dieser konnte es nicht.
Ich langweilte mich schwer, nagend und ausdauernd. Eine Zeitlang half es, im Kopf Gospels zu singen. Dann wurde ich bösartig. Gegen gebildete, wohlgesonnene Menschen.
Ihr Götter! Ich habe alle vor den Kopf gestoßen. Es fühlte sich an wie Notwehr. Aber davon versteht ihr ja nichts.
Die Gastgeber habe ich brüskiert, einen Mann mit vielversprechender Zukunft coram publico zu Tränen getrieben, durch den geschmackvoll möblierten Korridor geflucht und teuer getäfelte Türen hinter mir geschlossen, symbolträchtig mit der Schuhspitze. Ihr tut recht, wenn ihr mir zürnt. Morgen will ich es büßen.
Endlich bin ich allein, das heißt: Allein mit meinem Auto, was jeden lustvollen Gedanken an wiedererlangte Selbstbestimmung oder schwungvollen Abgang relativiert. Ich schalte die Zündung ein und ziehe am Starterhebel. Mit einem jämmerlichen Pfeifen erwacht der Vergaser und beginnt zu zischeln. Es stinkt nach Benzin. Der Chokezug hat sich wieder verklemmt, ich steige nochmal aus, stecke dem Auto die Hand in den Hintern und fummle im Dunkeln herum, bis ich den Draht fühle und verschieben kann. Die Abgaswolken werden heller. Ich fahre.
Mein Auto heißt Laß-uns-gehn-und-wenns-zu-Fuß-ist. Beinahe täglich weist es mich auf die Nichtigkeit menschlichen Strebens und die Endlichkeit der Mechanik hin. Es ist kein mobiler Uterus, in dem man geschützt von Ort zu Ort gleiten und dabei zur Musik denken kann.
Es ist drei Uhr morgens. Ich fahre durch den Wald und höre dem Auto zu, wie es hustet, furzt, klappert und schnauft. Zwischen den Bäumen hat sich Nebel verfangen und wabert im trüben Scheinwerferlicht.
Plötzlich knallt etwas, mein rechter Fuß tritt ins Leere. Verdammt! Wir rollen aus. Da stehen wir. Mitten im Wald mit gerissenem Gaszug. Das ist die Strafe! Meine beste Bluse habe ich an, und der eine Ärmel ist bereits voller Öl. Wenigstens ist es Sommer.
Als ich die Motorklappe öffne, fährt mir eine heiße Hand ins Gesicht. Ich schnappe nach Luft, drehe das Gesicht zur Seite, um so wenig Ölnebel wie möglich einzuatmen, und taste nach dem Vergaser. Auweh, ist das alles heiß! Ich werde warten müssen.
Ich sitze und warte. Rauche. Der Wald ist still. Oder nein: Höre ich da nicht etwas? Eine Art Brausen mit Schallspitzen darin, die fast Stimmen sein könnten. Ziemlich weit weg. Aber nicht so weit, daß man nicht nachsehen könnte.
Zuerst schleiche ich noch, damit ich besser orten kann. Das Brausen wird lauter. Im akustischen Untergeschoß wummert etwas, stampft und pocht. Sind das Maschinen? Dazwischen, jetzt ganz deutlich, Rufe und Schreie.
Der Nebel vor mir leuchtet. Nein, er wird angestrahlt. Von unten herauf angestrahlt mit weißem Licht, heller als der Tag. Ich klimme eine kurze, steile Anhöhe hinauf, halte mich an Wurzeln und Zweigen fest. Bei jedem Schritt wird es lauter und heller. Dann bin ich oben: Lärm und gleißendes Licht!
Ich sehe in eine riesige Baugrube hinunter, so groß und tief, daß man fast einen Häuserblock darin unterbringen könnte. Kräne stehen darin, Bagger, Kipper, in schreienden Farben lackiert: Quittengelb, Brüllrot, Kobaltblau, Zitronengrün. Wunderschöne Farben, und alles ist in Bewegung, leuchtet fast überirdisch im Flutlicht, schiebt, gräbt und stöhnt, rattert, poltert, kreischt und ächzt, eine infernalische Symphonie. Kleine Menschen mit orangenen Westen und bunten Helmen eilen hin und her, Dutzende, die hier mitten in der Nacht schuften.
Der Tunnel! Das kann nur der Ausgang des neuen Tunnels sein. Und richtig, da sperrt der Berg sein Maul auf, haushoch, mit geschwungenen Wulstlippen aus jungem Beton, aus denen wie Gräten die Enden von dicken Moniereisen ragen. Schimmernde Netze bedecken Wangen aus festgestampfter Erde. Überall sind Lichtwerfer, leuchten aus dem Tunnel, strahlen von den aufgeschütteten Erdwällen, die größten am Rand der Grube stehen auf dicken Eisenbeinen, andere hängen an Gerüsten, bewegen sich mit Helmen und Kranarmen. Licht dringt in alle Winkel. Jeder Mensch, jede Maschine wirft einen Stern aus blassen Schatten.
Ich werfe keinen. Dafür habe ich den besten Platz. Unsichtbar spähe ich vom obersten Rand der Grube, den Kopf im Licht, den Körper hinter der Böschung verborgen.
Der Mann mit der Explosionsramme begeistert mich besonders. Ein irres Gerät ist das. Ohne weiteres könnte es einem alle Zähne auf einmal zerschlagen, und doch hält es dieser spindeldürre, sehnige Kerl ganz alleine direkt vor seinem ungeschützten, weichen Menschengesicht, läßt den Riesenkolben hüpfen, als sei das ein Spaß. Ptufftschik!, sagt die Explosionsramme und verfehlt um genau kontrollierte Haaresbreiten einen Fuß im Sicherheitsstiefel zum abertausendsten Mal.
Jedesmal, wenn der Kran etwas zu tun bekommt, wird besonders viel gerufen und geschrien. Mit klingendem Rasseln fährt die Last in der Luft herum, wird justiert, dirigiert, korrigiert, endlich von emporgereckten Händen ergriffen und geführt, bis sie paßt und liegenbleiben darf.
Und die Bagger! In einer Stunde drehen sie so viel Land um wie achthundert Frauen mit Hacken. Ihre Namen tragen sie in mächtigen Buchstaben auf stählernen Flanken. Case. Cat. Komatsu. Träge, stetig und kraftvoll bewegen sie die schweren Köpfe, schwenken sie auf langen Hälsen herum, dazwischen zuckt und zischt schwarzglänzend das hydraulische Muskelspiel.
Niemand kann mir erzählen, daß das nicht ebenso spannend ist wie Gladiatorenkampf. Wäre ich selbst ein Bagger, ich fände diesen dort sehr sexy. Gemeinsam könnten wir mit der Herde rumpeln, knarzend einen Berg zermalmen und abends unsere fettigen, krustigen Eisenhälse umeinanderschlingen. Mit spezialgehärteten Baggerzähnen würde ich seine Halsbeuge beknabbern, ganz vorsichtig, um die bunten Kabel nicht zu verletzen, und er würde vielleicht stöhnen, abgrundtief knirschend, und ein wenig in den Federn nachgeben.
Plötzlich wird es in der Baugrube lauter. Deutlich lauter, und ich sehe nicht warum. Hallverzerrte Stimmeruptionen springen hoch und an den Wänden entlang, Wortfetzen vervielfältigen sich, das klingt nicht mehr wie das Ruf-und-Gegenruf-Spiel einzelner Arbeiter, das die Aktionen des Krans begleitete, sondern nach unkontrolliertem Sprechchor, tiefere Stimmen legen einen dumpfen Rhythmus darunter, und jetzt hört es sich wirklich und wahrhaftig wie auf einer Erweckungsfeier oder beim Kriegstanz an und wird immer lauter und lauter. Herrje, was rufen die denn? Sie rufen Wörter, aber ich höre nur Lärm, der Lärm ist ungeheuerlich, brandet schon über den Grubenrand, überrollt mich auf meinem Logenplatz und wirft Echoflöckchen in den Wald.
Auf einmal sehe ich, was sie so beschreien. Ein eigenartiges Metallgebilde hängt halb in, halb über der Grube. Ich habe nicht gesehen, woher es gekommen ist. Es scheint zu schweben, dabei muß es Tonnen wiegen, es sieht ein bißchen aus wie R2-D2 ohne seine Füßchen, dabei keineswegs niedlich, sondern riesenhaft mit einer Oberfläche aus genieteten Stahlplatten. Ich fühle, daß es fast lebendig ist. Es hat Augen, die es jetzt öffnet, Stahl verschiebt sich lautlos, die Augen sind aus Licht. Aus dem weißen Licht, das Baugruben erleuchtet und Bühnen, wenn Hamlet Jeans trägt und das Textbuch in der Hand hält, das die armen Ermordeten beleuchtet, wenn der Gerichtsmediziner das Skalpell ansetzt, und die Konzerthalle beim ersten Soundcheck; das als Arbeitslicht, Flutlicht und Putzlicht fleißig durch alle Weltnächte leuchtet, lange vor und nach Laternen und Theaterfackeln, Kerzen, stimmungsvollen Feuerzeugen und bunten Wackellampen.
Da begreife ich, daß der Gott der Arbeit selbst herabgekommen ist, um heute Nacht auf dieser Baustelle das Treiben seiner Kinder zu beleuchten und sie erneut an ihren Eid zu binden.
Das ist eine fühlbar weihevolle Angelegenheit, aber mich sollte er hier besser nicht vorfinden. Denn ich habe den Eid nicht geleistet. Bin ihm durch die Lappen gegangen. Schnuppere an seinen Altären herum, ohne zu bekennen, und das seit Jahr und Tag.
Wenn das Licht seiner Augen mich trifft, bin ich fällig. Dann muß ich ihm dienen. Ihm gehorchen und seine Gebete sprechen, bis ich zu alt und zu schwach bin und er seinen Blick von mir nimmt, damit es wenigstens meine eigenen Füße sind, von denen ich schlußendlich falle. Und wenn ich das nicht will, muß ich noch einmal durch jenen geschmackvoll eingerichteten Korridor gehen, alles zurücknehmen, was ich gesagt habe, und mich einer vielversprechenden Zukunft ergeben. Das darf nicht sein.
Abhauen wäre die denkbar beste Lösung. Aber vorher will ich wissen, was das für Buchstaben auf den Stahlplatten sind. Ich sehe sie nur halb, stolze Blockbuchstaben wie in Baggernamen. Ich schleiche um die Grube herum, bis ich den Gott von hinten sehe.
Auf seinem Rücken steht POCLAIN.
Ich weiß nicht mehr, ob ich gelacht oder irgendein Geräusch gemacht habe. Vielleicht hätte ich das ja auch einfach nicht lesen dürfen. Jedenfalls fühle ich, daß er mich bemerkt hat, noch bevor er sich umdreht. Als das Licht mich trifft, reiße ich gerade noch rechtzeitig die Hand hoch. Einen Augenblick lang sehe ich meine Handknochen, dann stürze, stolpere und schliddere ich den Hang hinunter, renne durch den Wald, aber nicht lange, da ich ahne, daß er mir nicht folgen wird.
Laß-uns-gehen-und-wenns-zu-Fuß-ist steht erkaltet und geduldig. Ich flicke den Gaszug mit einer Lüsterklemme und fahre nach Hause. Meine Hand juckt. Ich bin verschmiert von oben bis unten, mein Rock ist zerrissen, aber das ist egal. Ich bin entkommen.
Als ich am nächsten Mittag aufwache, sehe ich, daß meine Hand verschwunden ist. An ihrer Stelle habe ich eine Gripzange. Eine qualitativ hochwertige Gripzange, aber eben eine Gripzange. Sie ist warm und fühlt sich an wie meine Hand. Ich kann damit schreiben, Klavier spielen und Zigaretten drehen, als wären fünf Finger dran. Sie macht auch keine Metallgeräusche.
Beim Einkaufen habe ich sie unter einem Verband versteckt, obwohl das sehr unpraktisch ist. Ich will mich nicht zu früh aufregen. Vielleicht ist es nur eine Warnung.
Meinen Freunden kann ich erstmal erzählen, ich hätte mich verbrüht oder so. Aber wenn sich nichts ändert, muß ich mir etwas einfallen lassen.