Worin die Brandung ausrollt
Kendrik war seit sieben Monaten mein Geliebter. Ich war berauscht von ihm, berauscht wie ein Heide, der heimlich Meßwein säuft und dabei die Strafe der Götter fürchtet.
Er kam aus Belgien, einem Land, das mich nie interessiert hatte. Was kann man mit Belgien schon anfangen außer durchzufahren, wenn man woanders hinwill und Belgien zufällig im Weg herumliegt?
Wir trafen uns immer in einem Ort nahe der luxemburgischen Grenze, einem kleinen Dorf, das genau in der Mitte zwischen unseren Wohnorten lag. Dieses Dorf kannten wir inzwischen ziemlich gut. Wir hatten es an vielen Abenden durchstreift, im Restaurant gegessen, die blühenden Vorgärten im Frühling betrachtet und im Herbst auf den Wiesen Äpfel gestohlen. Das Dorf gehörte sozusagen zu unserem Liebesspiel, es war unsere Zuflucht, unsere geheime Welt.
Wer zuerst ankam, richtete das Lager: Wenn es kalt war, nahmen wir ein Zimmer, immer dasselbe Zimmer im einzigen Hotel; war es warm, wohnten wir unter einem gewaltigen Birnbaum, der uns in einer Frühlingsnacht, während wir schliefen, mit Blüten überschüttet hatte und dessen Sommerblätter tanzende Schatten auf unsere Haut warfen, wenn wir träumten.
Die Wiese, auf der er stand, war hoch über dem Dorf; man sah von dort aus weit nach Luxemburg hinüber. Die Sonne ging in Deutschland auf und in Luxemburg unter; im Tal floß die Mosel breit und friedlich zwischen ihren Weinbergen dahin.
Kendrik sprach Flämisch, eine Sprache, die ich zwar verstand, wenn ich sie las, nicht jedoch, wenn ich sie hörte. Trotzdem bat ich ihn oft, Flämisch zu sprechen; es verzauberte mich, wie zärtlich diese Sprache klingen konnte, die auf dem Papier so ulkig aussah und die ich nie zuvor bewußt gehört hatte. Dann lauschte ich den Worten nach und freute mich, wenn ich etwas zu erkennen meinte, betrachtete Kendriks sprechende Hände, seine samtenen Augen; seine Schönheit schnitt mir ins Herz.
Manchmal stritten wir auch, vor allem, wenn es regnete.
In einem ganz schwachen Moment hatte ich Kendrik von meinem schlechten Gewissen und dem heiligen Wein erzählt, von meinem Wunsch, diesen Becher nicht zu leeren, sondern den Göttern zurückzugeben. Damit hatte ich zugegeben, unsere Liebesgeschichte könne endlich sein; die vorausgeworfenen Schatten ungeschehener Dinge waren seither unser Damoklesschwert für Schlechtwettertage.
Der Sommer war vorbei, es war November; unser Birnbaum kahl. Wir saßen im Hotelzimmer und nagten uns durch unser Streitthema; wir hatten nur dieses eine, aber das war ergiebig. Man konnte es immer wieder aufwärmen; es erschöpfte uns jedes Mal vollkommen, wir es aber nie, da es Schatten war.
„Du nimmst einfach hin, daß alles vergeht, weil du das romantisch findest, aber es verklärt nur den Augenblick und befreit dich von jeder Verantwortung“, warf Kendrik mir vor. „Der Becher wird niemals leer werden, solange du daraus trinkst; er wird leer sein, wenn du einmal nicht mehr daraus trinken willst.“
Ich widersprach ihm nicht, weil ich keine Argumente hatte. Er war zehn Jahre jünger als ich und glaubte, sein Herz spreche wahr und ewig.
Mein Herz hielt sich mit solchen Aussagen zurück. Schon vor Jahren hatte es zugeben müssen, daß nicht Prophetie, sondern Segelflug seine Stärke war.
Als wir erschöpft waren und uns alles so leid getan hatte, schliefen wir. Am nächsten Morgen war der Schatten weg und unser Wochenende vorbei. Wir waren traurig.
Kendrik wünschte sich, daß ich Belgien kennenlerne. Er wollte nicht hinnehmen, daß sein Land für mich aus hellerleuchteten Autobahnen und Hafenanlagen bestand. Ich hätte ihm alles versprochen, so sehr schmerzte mich die verlorene Nacht.
Zwei Wochen später sattelte ich das alte Auto für die Reise.
Kendrik wohnte bei Antwerpen. Bis ich vor seiner Tür stand, hatte ich bereits das halbe Land durchquert, dabei ein Brot gegessen und die hellerleuchteten Autobahnen wiedergesehen.
Wir blieben eine Nacht bei ihm und fuhren am nächsten Morgen in aller Frühe los. Es war beißend kalt, die Sterne standen noch am Himmel.
Da ich von Osten gekommen war, lag es nahe, nach Westen weiterzufahren. In den wallonischen Landesteil oder nach Brüssel im Süden wollten wir nicht, und im Norden war fast schon Holland.
Hinter uns ging die Sonne auf; ein rosakalter Winterhimmel räkelte sich über flachem Land. Wir fuhren durch verschlafene Backsteindörfer, rote Häuser, rote Kirchen, ein Dorf am andern, es hörte nicht auf.
„Wo sind denn die Wälder von Flandern?“, fragte ich Kendrik. Er lächelte. „Da steht ein Baum!“, sagte er.
Unterwegs hielten wir an, frühstückten in einem Dorfcafé und tranken „Koffie Verkeert“, eine belgische Kaffeevariante mit fast keinem Kaffee und jeder Menge Milch drin.
Dazu erzählte uns der Wirt die Geschichte vom Dritten Ohr, nach dem das Café benannt war:
Einmal begab es sich, daß der König durch das Dorf reisen sollte. Gesandte kamen eine Woche vorher, hießen die Bauern an, die Straßen zu fegen und zu schmücken und am bestimmten Tag dem König zuzujubeln. Dann gingen sie ins Wirtshaus, um sich von der Qualität des Biers zu überzeugen, denn der König würde dort einkehren.
Als sie ihr Bier bekamen, fiel ihnen auf, daß der Wirt den Krug am Henkel („Oor“) hielt, so daß die Gäste ihn mit der Hand umspannen mußten, um ihn anzunehmen.
„So kannst du dem König kein Bier reichen“, sagten sie dem Wirt und erklärten ihm, er solle den Becher mit dem Henkel voraus dem König geben. Aber der Wirt begriff das nicht, er hatte Bierkrüge nie anders als am Henkel gehalten.
Eilends ließ man einen Bierkrug mit zwei gegenüberliegenden Henkeln herstellen. Doch als man den dem Wirt gab, fasste er beide Henkel und hielt dem Gast beidhändig das Bier entgegen.
Um jedes Risiko zu vermeiden, wurden nun Bierkrüge mit drei Henkeln angefertigt. So konnte der Wirt den König nicht brüskieren, und am feierlichen Tag ging alles gut.
„Ganz sicher wäre natürlich erst ein Krug mit vier Henkeln gewesen“, meinte unser Wirt. „Und selbst dann hätte er noch stolpern und dem König das Bier über den Kopf schütten können.“
Als wir weiterfuhren, war die Sonne verschwunden. Es regnete. Gegen Mittag erreichten wir Oostende, wo ich den Fährhafen kannte.
„Oostende ist schön“, sagte Kendrik. Er war nur einmal als Kind dagewesen, kannte sich also genauso gut aus wie ich.
Ich steuerte das alte Auto mitten in die Stadt und parkte es auf dem ersten legalen Parkplatz, den ich finden konnte. Das dauerte eine Weile. Tolle illegale Parkplätze gab es genug, doch Kendrik warnte mich eindringlich davor, leichtfertig meine Parkbräuche in Belgien auszuüben, da Strafzettel ungefähr zehntausendmal so teuer seien wie in Deutschland.
Als wir ausstiegen, haute uns der Wind fast um. In Sekundenschnelle hatte er unsere Haare zerrupft und trieb Regentropfen in unsere Kragen, Ärmel und Augen. Wir rannten über die Straße, dort fing die Fußgängerzone an, im ersten Kleiderladen kaufte Kendrik mir einen dicken Schal, ich kaufte einen Stadtplan.
Was wollten wir eigentlich? In einen Hauseingang gedrückt, schafften wir es, eine Zigarette anzuzünden, die sofort naß wurde und wieder ausging. Es war erbärmlich kalt. Das war nicht der Stoff, aus dem Urlaubsträume gemacht sind. Wir beschlossen, ein Zimmer zu nehmen, uns aufzuwärmen und dann die Stadt zu erkunden.
Das Hotel, in dem wir uns einnisteten, gehörte einem Schotten. Die Zimmer waren klein, aus unserem sah man auf eine Baustelle gegenüber, wo zwei rotgelbe Kräne fleißig Stahlträger und Betonteile in die Höhe zogen.
Ohne den Wind war es trotz der Straßengeräusche still. Wir verteilten unsere Sachen, alberten herum, deckten das Bett auf, duschten; schließlich setzten wir uns an den kleinen Tisch am Fenster und sahen zu, wie der Regen aufhörte. Noch etwa drei Stunden, dann würde es dunkel werden.
Als wir die Trägheit überwunden hatten, zogen wir unsere wärmsten Sachen an und liefen los, einfach in die Stadt hinein.
Oostende ist nicht groß und sehr hübsch, gemütliche Seebadnoblesse trotz der Kälte, an jeder Ecke ein Restaurant und ein Schokoladenladen. Wir flanierten breite Einkaufsstraßen entlang, deren schmucke Fassaden hie und da Lautsprecher trugen, aus denen schon vorweihnachtlicher Schall rieselte, schlenderten durch kleine Gassen mit schmalen verschnörkelten Häusern, überquerten prachtvolle Plätze im Sturmschritt, um dem Wind zu entkommen. Manche Straßen endeten am Meer; immer, wenn wir in eine solche einbogen, schlug er uns besonders wild entgegen, wollte uns nicht zum Ufer lassen; wir mußten uns dagegenstemmen und aneinander festhalten. Am Wasser konnten wir nie lange stehenbleiben, so eisig und schneidend wehte er dort. Auch das Meer sah feindlich, tödlich aus; trotzdem zerfloß ich als armer Binnenländer in Freude und Sehnsucht, als ich es sah.
Wir hielten uns umarmt und betrachteten die tapferen Möwen mit ihren zerwehten Federn, die verwaiste Strandpromenade, die klatschnassen weißgestrichenen Bänke, bis die Kälte uns zurück zwischen die Häuser trieb.
Bei diesem ziellosen Streifzug kamen wir irgendwann zu einem kleinen runden Platz, an dem ich deutlich die Nähe des Schwarzen Marktes spürte: Einen Hauch von aufregender Ahnung und innehaltender Zeit.
„Laß uns hier stehenbleiben und eine rauchen“, schlug ich Kendrik vor.
Zwei ganz schmale, bunt bemalte Häuser faszinierten mich: Sie waren aneinandergebaut, eines schien sich ans andere zu lehnen, und wirkten wie Märchenhäuser, Zwergenhäuser auf Postkarten mit naiver Malerei. Ein offenstehender Reißverschluß aus Klaviertasten war auf die Fassaden gemalt, ein barbusiges Weibchen mit einer Flasche, kleine Tierchen, Wolken; die einzige Gaube war ein großes Auge mit langen schwarzen Wimpern.
Ich ging hin und spähte durch eine Tür. Sie war verschlossen, aber ich sah ein paar Stufen, die nach unten führten, und eine kleine Bar. Dahinter saß ein alter Mann und las; ich klopfte, er blickte auch auf und sah mich, schüttelte aber nur den Kopf und las weiter.
Kendrik war mitten auf dem Platz stehengeblieben, drehte sich langsam um sich selbst und sah dabei zu der großen Kirche hoch, die auf der anderen Seite des Platzes stand und den Wind abhielt. Ich ging zu ihm und warf dabei die Zigarette auf das Pflaster, um sie auszutreten.
Als ich nach unten sah, stutzte ich, mein Herz begann zu klopfen: Da war ein Buchstabe im Stein!
Und ein paar Meter weiter noch einer! Irgendetwas war hier im Kreis geschrieben, um den ganzen kleinen runden Platz herum. Ich grub Zettel und Stift aus meiner Tasche und begann es abzuschreiben, es war ein vierzeiliges Gedicht:
Een stad an zee is open an een kant
Vol wind geblazen uit het binnenland
En alle straten gonzend als een horen
Waarin de branding uitruist in rul zand.
Kendrik las es mir vor; es klang wunderschön.
So ungefähr in dem Moment muß der Schwarze Markt auf uns aufmerksam geworden sein. Ein junger Mann schlenderte auf uns zu, fragte eine klassische Eröffnungsfrage.
Kendrik antwortete, verneinte; als der Mann sich zum Gehen wandte, hielt ich ihn zurück, fragte auf englisch, ob er wisse, von wem das Gedicht sei, das ich von den Kopfsteinen abgeschrieben hatte.
Seine Augen leuchteten auf. „Von wem es ist, weiß ich nicht“, sagte er, „aber es ist über die Stadt. Es steht hier, weil hier das Herz von Oostende ist.“
Ich lachte. Vielleicht dachte er, ich lachte ihn aus; jedenfalls setzte er noch hinzu: „Diese Stadt hat ein besonderes Herz, das man sieht, wenn die Augen groß genug sind.“
Ich kann es nicht erklären, aber damit hatte er mich.
„Was verkaufst du hier eigentlich?“, fragte ich ihn.
Eine halbe Stunde später saßen wir in einem fettigen, mit Plastikhummern dekorierten Straßenrestaurant, aßen bergeweise Miesmuscheln mit Tunksoße und Fritten und kicherten über eine Gruppe deutscher Touristen am Nebentisch, die versuchten, die Farbe der Wände in Worte zu kleiden.
„Gelber als gelb gibt es nicht“, sagte ein gewichtiger Mann mit Walrossbart. „Das wäre dann verboten gelb.“
Beim Bezahlen gelang es mir, dem Kellner einen Plastikhummer abzuschwatzen, allerdings nur einen ganz kleinen: Er passte in meine Hosentasche.
Draußen war es dunkel, in den klatschnassen Straßen spiegelten sich die erleuchteten Fassaden. Kaum ein Mensch war unterwegs.
„Ich merke, wie meine Augen größer werden“, sagte Kendrik. Ich faßte seine Hand, sie war kühl und zitterte ein wenig. „Glaubst du, daß eine Stadt ein Herz hat?“
Wir gingen uns das Meer bei Nacht besehen und fanden es friedlicher als am Nachmittag. Die Kälte störte uns nicht länger, wir bummelten die Strandpromenade entlang, besahen uns Denkmäler, kletterten in einem blau beleuchteten Rohbau herum und setzen uns schließlich auf einen Stahlträger, von wo aus man die Schiffe beobachten konnte. Aneinandergelehnt sahen wir zu, wie sie bunte Spuren durch die Wellen zogen, lauschten den Geräuschen, die der Wind uns über das dunkle Wasser hinweg zutrug.
Kendrik übersetzte mir das Gedicht:
Eine Stadt an der See ist nach einer Seite offen, voll Wind geblasen aus dem Binnenland, und alle Straßen –
(hier wurde es kompliziert, denn das Wort „gonzend“ ließ sich nicht einfach übersetzen; Kendrik erklärte es mir als eine Mischung aus Puls und Widerhall)
– wie ein Horn, worin die Brandung ausrollt im losen Sand.
Ich dachte über die Worte nach. Etwas daran störte mich, aber ich kam nicht dahinter, was es war.
Durch die dicken Kleider spürte ich Kendriks Herzschlag. Wir küssten uns. Seine Lippen schmeckten nach Meer; meine eiskalte Nase taute an seiner Wange.
Der Stahlträger war naß. Als wir glaubten, daran festzufrieren, verließen wir den Rohbau, rannten ein paar Straßen weit, um uns aufzuwärmen, und versuchten dann, mithilfe des Stadtplans zu ermitteln, wo wir waren. Das war nicht einfach. Die Buchstaben wollten nicht stillhalten, jedes Wort mußten wir mit vier Augen niederringen und festnageln, um es entziffern zu können. Ich kramte in meinen Taschen nach der kleinen Lampe, die ich ganz bestimmt eingesteckt hatte, aber nicht finden konnte, warf dabei den Hummer auf den Boden und verbrannte mir die Finger am Feuerzeug, als ich die Pflastersteine nach ihm ableuchtete.
Auf dem Plan fanden wir den Rohbau, in dem wir gesessen hatten, als Regierungsgebäude eingezeichnet. Oder hatten wir verlernt, einen Stadtplan zu lesen?
Zurück zum Stadtkern war es eine ziemliche Strecke. Hier und da sahen wir frierende Menschen wie Gespenster vorüberhuschen. Die Stadt war still und friedvoll. Die hellen Fassaden schienen im Rhythmus unserer Schritte leicht zu hüpfen und zu schwanken. Ich stellte mir die Straßen als das Horn vor, in das der Wind hineinbläst.
Plötzlich schoß mir ein Gedanke durch den Kopf. Ich blieb stehen, packte Kendriks Arm: „Der Wind in dem Gedicht bläst ja von der falschen Seite!“
Kendrik verstand sofort. Wir dachten darüber nach.
„Rollt die Brandung tatsächlich im Horn aus?“, wollte ich wissen. „Nicht vielleicht in den Straßen?“
„Nein, im Horn; im losen Sand“, antwortete Kendrik. „Ist das wichtig? Muß man es denn genau so sehen, wie es geschrieben steht?“
Diese Frage brachte mich ganz durcheinander. Es war doch in den Stein geschrieben!
Ich war mir sicher, daß man es so verstehen konnte, wie es dastand. Die offene Seite, das Mundstück des Horns, in das der Wind hineinblies, war nicht die Seeseite, und die Brandung in dem Gedicht rollte der tatsächlichen Meeresbrandung entgegen, verstummte sozusagen im dicken Ende des Horns, anstatt herauszuschallen und zu -schwappen.
Kendrik hatte mir erstaunt zugehört. Jetzt lachte er, strahlte mich an und schüttelte den Kopf.
„Du kannst dir Gedanken machen …!“
Ich nickte. Das konnte ich allerdings. Immer mache ich mir Gedanken. Und meistens lacht dann einer, lacht mich liebevoll aus und sagt: „Du kannst dir Gedanken machen …!“
Aber dann sagte Kendrik noch etwas völlig Unerwartetes:
„Wir verstehen das Bild in dem Gedicht nicht, weil wir Fremde sind. Du sagst aber, die Bedeutung muß in den Worten liegen. Ich glaub’ dir das. Laß uns zurück zu dem Platz gehen, wo die Worte stehen, und da jemanden fragen.“
Wir bekamen beide das Gefühl, einem Geheimnis auf der Spur zu sein.
Um zu dem kleinen Platz mit den Zwergenhäuschen zu gelangen, mußten wir nur die Kirche finden, die danebenstand; das war einfach, denn es war die berühmteste Kirche der Stadt.
Schon von weitem sahen wir, daß in der kleinen Bar Licht brannte. Die Tür ging schwer auf, Glöckchen bimmelten, als wir eintraten. Stickige Wärme umfing uns, wir blinzelten, schnappten nach Luft; nach der langen Zeit im Freien kam es uns vor, als atmeten wir durch ein nasses Handtuch.
Der alte Mann, den ich lesen gesehen hatte, saß immer noch hinter der Bar, sogar das Buch lag noch da, allerdings las er jetzt nicht, sondern unterhielt sich. Sein Gesprächspartner war vollbärtig, ungefähr siebzig und in mehrere Lagen Leder und Fell gekleidet. Er sah aus wie eine Abenteuerbuchfigur, ein alter Barbar, Steinzeitjäger, Robinson Crusoe im Winterpelz.
Statt eines Tisches stand ein großes Faß in der Ecke, darauf Kerze, Aschenbecher und Zeitung, darum drei Barhocker. Wir setzten uns, zündeten die Kerze an und spähten im Raum umher, bis sich unsere Augen nicht mehr anfühlten wie beschlagen.
Wir waren die einzigen Gäste, und das Faß war der einzige Tisch. Aus alten Spindschränken gebastelte, mit Büchern und Papier vollgestopfte Regale hingen und standen an den Wänden; neben der Bar führte eine steile, ausgetretene Treppe nach oben, aber man konnte nicht sehen, wo sie endete; statt einer Tür war dort auf halber Höhe eine alte Wolldecke angebracht, die von der Decke herunterhing.
Nach einer guten Weile wurde uns klar, daß uns niemand bedienen würde. Kendrik ging zur Bar, um uns ein Bier zu holen.
Während es gezapft wurde, redete der Vollbärtige auf Kendrik ein, bedeutete ihm, sich aus der großen Tabaksdose zu bedienen, die auf dem Tresen stand, und lächelte über sein Ungeschick mit dem trockenen Tabak und den zerknitterten Papierchen. Schließlich nahm er selber ein Blättchen und Tabak und drehte mit einer Hand eine Zigarette, so schnell, daß es aussah wie Zauberei. Er zeigte sie Kendrik und schlug ihm auf die Schulter, lachte dröhnend, förderte ein Streichholz aus seiner Tasche zutage und riß es am Daumennagel an. Der alte und der junge Kopf beugten sich über das Flämmchen, und eine Wolke stinkenden Rauchs wehte durch den Raum. Kendrik hustete und lachte.
Als das Bier fertig war, kamen beide zu unserem Faß. Der Alte nahm auf dem dritten Barhocker Platz und hielt mir seine Hand hin, sie war groß, schmutzig und schwielig, eine gute Hand.
Ich verstand kein Wort von seiner Begrüßungsrede. Als Kendrik jedoch erklärte, ich sei aus Deutschland, verfiel er in einen ganz eigenartigen Dialekt, den er Kölsch-Platt nannte, den ich noch nie gehört hatte und trotzdem verstand. Das habe er in Köln gelernt, während des Krieges, erzählte er. Ein Kölner und ein Flame könnten sich immer verstehen. In Köln seien die Mädchen so arm gewesen, daß sie für eine Zigarette mit den Soldaten mitgegangen seien; natürlich nicht mit belgischen Soldaten, sondern mit englischen und amerikanischen.
Ich dachte an meine Großmutter aus Köln und die Geschichten, die sie mir erzählt hatte. Gleichzeitig fiel mir ein, daß der Mann mindestens achtzig Jahre alt sein müsse, und eine eigentümliche Stimmung befiel mich.
Wir rauchten und nippten vom dunklen Bier; von dem Alten ging ein merkwürdiger, wilder Geruch aus, nicht unangenehm wie von einem ungewaschenen Körper, sondern urig, erdig; ich begriff, daß ich sein Bartgestrüpp und den Pelz roch, den er trug. Seine Augen waren hell wie Scherben eines heißen Himmels, seltsam und ein wenig unheimlich in dem dunklen, faltigen Gesicht.
In so etwas wie Kölsch fragte ich, ob er etwas über das Gedicht wisse, das auf dem Platz eingeschrieben steht.
Er verstand mich. Das Gedicht, ja! Da seien wir an der richtigen Adresse.
Er stemmte sich hoch, ging zur Bar und redete mit seinem Freund, der daraufhin sein Buch abermals weglegte, die halbe Treppe hochschlurfte, aus einem Regalfach einen schmalen Band herausnahm und darin zu blättern begann.
„Warum hast du nie dieses Kölsch mit mir gesprochen?“ raunte Kendrik. „Ich hab’ ja jedes Wort verstanden!“
Bevor ich antworten konnte, kamen beide Alten mit dem Buch zurück und legten es vor uns hin.
De waarheid over de zee, las ich: Die Wahrheit über das Meer.
Wir erfuhren, daß das Gedicht nur eines von vielen war, die entlang der belgischen Küste angebracht worden waren, als Projekt, um Menschen für Literatur zu interessieren. Das Gedicht, das wir verstehen wollten, war von Anton von Wilderode, seine Liebeserklärung an Oostende, die Seestadt.
„Aber es ist ja dieser Widerspruch drin …“, begann der Vollbart. Ich fiel ihm grob ins Wort, rief: „Ja! Genau! Der Wind bläst in die falsche Richtung! Deshalb sind wir überhaupt hergekommen …!“
Kendrik schielte zu mir herüber und wurde ein bißchen rot. Aber der Alte legte mir seine Pranke auf die Schulter, beugte sich zu mir und murmelte:
„Ich habe immer hier gelebt. Der Wind aus dem Binnenland, das ist natürlich Brüssel. Ein schönes Bild! Aber in Wirklichkeit geht es darum …“
„… daß hier die Brandung ausrollt“, sagte Kendrik leise.
„Ja“, nickte der Alte. „Jede Brandung.“
Ich zog den Zettel aus meiner Tasche, glättete ihn auf dem Holz und betrachtete die Buchstaben.
Zwei Winde lassen die Straßen pulsieren und widerhallen. Zwei Brandungen treffen sich, klingen und kommen zur Ruhe.
Von der Seite sah ich Kendrik an. Seine Augen waren riesengroß, fast schwarz; tief drinnen spiegelte sich die Kerzenflamme, zwei winzige, flackernde Lichter. Wir saßen still, fühlten das Herz der Stadt und fühlten unsere eigenen Herzen zur Ruhe kommen.
Später liebten wir uns lange auf dem quietschenden Hotelbett, während es draußen hell wurde und die Kräne auf der gegenüberliegenden Straßenseite ihre Arbeit wieder aufnahmen. Als Kendrik schon längst schlief, lag ich immer noch wach, sah hinter den geschlossenen Lidern die strahlenden, stolzen Fassaden hüpfen und tanzen und versuchte mich an den Dialekt zu erinnern, den wir gesprochen hatten. Es gelang mir nicht mehr.
Schließlich schlief ich ein und träumte, ich säße in einem großen Horn, durch dessen gewölbte, perlmutterfarbene Wände seidiges Licht und ferne Stimmen hereindrangen; unter meinen nackten Zehen spürte ich Sand, in dem ich meine Füße vergrub; er war ganz warm.
Allein fuhr ich zurück nach Deutschland; als ich nachts die Grenze überquerte und die hellen Lichter hinter mir zurückließ, wurde mir leicht ums Herz. Ich kehrte gern heim zu meinen Wäldern, dunkel und groß war mein Land; man konnte sich darin verstecken.
An einer Raststätte trank ich einen schwarzen Kaffee und ließ den Plastikhummer auf dem gelben Tischtuch zurück.