Zweitland und Suppenhuhn
Neulich fand ich im Briefkasten eine Nachricht, daß ich ein Päckchen aus Amerika auf dem Zollamt abholen müsse. Das sei zwar, erfuhr ich am Telefon, eigentlich weder zu verzollen noch zu versteuern, auch das Porto sei bezahlt, doch habe es die Post eben aus irgendeinem Grund nicht in meinen Briefkasten gesteckt.
Aus welchem Grund denn aber nicht?
„Aus irgendeinem Grund, nehme ich an“, sagte der freundliche Beamte am Telefon.
Heute war ich auf dem Zollamt. Eine Aura des Rätselhaften umgibt das Zollamt. Da ist zum Beispiel die Sache mit dem Drittland. Mein Päckchen kommt aus einem Drittland, das steht auf dem Zollzettel, den die Post gebracht hatte, doch als ich das Zollfräulein frage, was ein Drittland sei, sieht sie mich kafkaesk an und fragt zurück: „Was ist denn daran, bitteschön, unklar?“
Welches das Zweitland sei, will ich wissen.
„Gibt’s nicht!“, sagt sie.
Kleine Figürchen, offenbar aus verbogenen Plätzchenausstechern geformt, stehen auf dem Trennelement zwischen Beamten und Öffentlichkeit. Sie tragen kleine grüne Helmchen und stellen wohl Zöllner dar.
„Hübsch!“, sage ich.
Das Fräulein zuckt die Schultern.
Ein großes Plakat fasziniert mich. Darauf wird man aufgefordert, sich kostenlos für die Online-Auktion gepfändeter, uneindeutiger und beschlagnahmter Dinge zu registrieren. Da will ich ja unbedingt mal mitmachen. Bestimmt kann man da Waffen, Biberfelle und Spirituosen weit unter Preis erkiesen.
Ein Biberfell aus einem geheimnisumwitterten Zweitland, das würde sich gut vor dem Kamin machen. Wichtige Gäste könnten darauf sitzen und beim umsichtigen Formulieren deutlicher Meinungen gedankenverloren mit dem mumifizierten Plattschwanz spielen.
Als plötzlich drei junge hoffnungsvolle Menschen hinter dem Schalter auftauchen, schickt mich das Fräulein mit den Worten „Sie sind jetzt hier erledigt, sie dürfen gehen!“ nach Hause.
Schade, daß ich nicht gefragt habe, ob ich so ein Blechzöllnerchen behalten könne. Die waren ihr ja so egal! Sicher hätte sie mir eins gegeben.
Aus den Augenwinkeln sehe ich noch, wie sie die jungen Leute dienstlich begrüßt.
„Wir sind Ausbildungszollamt“, steht auf mehreren Schildern, darunter Bitte um Verständnis, wenn nicht jeder Beamte, den man sieht, abfertigungsberechtigt oder -fähig ist.
Auf der Rückfahrt, endlich wird es mal hell, schieben Sturmböen das Auto in der Spur hin und her. Regen klatscht, der Scheibenwischer piept schmerzlich bei jedem Ausholen. Hubert Kah im Radio.
Seit Weihnachten kommt viel mehr Neue Deutsche Welle im Radio als vorher, das kann ich mir doch nicht nur eingebildet haben?
Bei einem solchen Wetter muß man Hühnersuppe essen, damit man nicht ewig erkältet ist. Richtige Hühnersuppe mit einem ganzen richtigen Huhn im Topf. Ich halte an und kaufe ein ganzes richtiges Huhn zu einem Spottpreis. Man sollte öfter ganze Hühner kaufen. Drei-Euro-zickzack für ein ganzes Huhn! (Das Zollfräulein sagte, den Warenwert meines Drittlandpäckchens betreffend: Zwölf-Euro-schießmichtot. Das hatte ich auch lange nicht mehr gehört.)
Die Kassiererin im Edeka-Aktivmarkt schenkt mir eine gelbe Rose. „Damit es schöner ist!“, sagt sie verlegen und gesteht, daß sie „Montage irgendwie nicht leiden“ könne. Ich will ihr sagen, daß es viel schlimmer wäre, in einem Passivmarkt zu arbeiten, wo gar nie etwas los und jeder Montag lang wie die Ewigkeit sei, entscheide mich aber dagegen.
Jetzt kocht das Huhn im Topf, ich sitze und friere jämmerlich vor mich hin, und sobald ich hier mit Schreiben erledigt bin, darf ich gehen und gucken, wie es inzwischen gekocht ist. Die Rose steht in der kostbaren, häßlichen Vase, die ich vor Wochen aus Versehen bei einer Losbude gewonnen habe und nicht bei Ebay verkaufen darf, weil mein soziales Umfeld sie ganz reizend findet.
Witwe Bolte fällt mir ein. „Meines Lebens schönster Traum“ nannte sie ihre Hühner, als diese, von den bösen Buben aufgefädelt, am Baum verendet waren.
Meine Kinder haben darüber sehr unterschiedliche Meinungen.
„Mann, die macht sich vielleicht wichtig mit ihren blöden Hühnern“, meint das eine. „Warum hat sie ihnen nicht beigebracht, daß man nichts essen soll, wo ein Faden rausguckt!“
„Die armen Hühner!“, sagt das andere. „Die armen, armen toten Hühner!“
Was mache ich nur, wenn ihnen das beim Anblick der Suppe einfällt? Aber das Huhn wird ja hoffentlich zerfallen beim Kochen. Zerfällt es nicht von alleine, werd ich es lehren! Dann ist es kein armes, armes totes Huhn mehr. Dann ist es leckere Suppe. Nach den Zutaten von Suppen wird fast nie gefragt. Suppe ist trojanisches Essen.
Ein komisches Geräusch macht so ein Huhn, wenn man Wasser aufgießt und das Wasser dann gurgelnd und schmatzend in den hohlen Hühnerbauch hineinköchelt. Ich muß es mit zwei Holzlöffeln wenden und kann mir dabei nicht verkneifen, aufgeregte Hühnergeräusche zu machen.
Irgendwann wird mich jemand bei alldem ertappen, was ich alles alleine vor mich hinschwätze, -pfeife und -singe, dann ist es vorbei mit den gemütlichen Bürgerrechten. Man wird mich in ein Zweitland abschieben, und meines Lebens schönster Traum wird dort, zur allgemeinen Erbauung am öffentlichen Apfelbaum aufgefädelt, mit langem Hals verenden.