Die Chefin
Wie kann ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?
Ich wurde am 20. Oktober 1971 in Neuenbürg an der Enz geboren.
Mein Mann und ich arbeiten als freie Texter und verwandeln täglich (und auch nachts) Wörter in Zahlen. So haben sich die Prophezeiungen meiner Freunde und Familie erfüllt, aus mir könne erst dann etwas werden, wenn es möglich sei, mit der Produktion vieler Gedanken und Wörter in kurzer Zeit echtes Geld zu verdienen. In den Zeiten vor dem Internet hieß das: wenn die Sonne im Westen aufgeht.
Darum arbeitete ich unter Autos, an Telefonen, zwischen Papieren und auf Gerüsten, bis ein Mann namens Christian Praetorius mir erzählte, die Sonne gehe mittlerweile im Westen auf. Kurz darauf bekam ich sogar diesen edlen Nachnamen, der sechs N weniger enthält als mein alter, dafür aber alle Vokale, und der noch viel kreativer falsch geschrieben werden kann.
Gegen die Rechtschreibreform wollte ich demonstrieren gehen. Mit Spruchband und Mistgabel und Umhängeplakat und kernigen Protestsongs mit ß im Refrain. Ich hätte sogar Suppe gekocht. Leider fand eine derartige Versammlung in meiner Nähe nicht statt.
Ich bilde mir einen Kuchen auf mein Gedächtnis, meine Kommasetzung und meinen Textknopf ein. Diesen Kuchen habe ich früher schon gern verschenkt. Heute verkaufe ich auch viele Stücke davon, und er wird nie kleiner.
Den Niedergang der Interpunktion halte ich für eine Schande für sich. Er ist zu schändlich, um ihn einfach in den Niedergang-der-Sprache- oder Verfall-der-Sitten-Topf zu schmeißen. Was in denen schon alles köchelt, will ohnehin keiner mehr essen.
Über Musik weiß ich ganz viel. Musik konnte ich schon vor Sprache. Seit Jahren schleppe ich einen Konzertflügel herum. Brotlos. Zudem habe ich viel dazu beigetragen, unter Gitarristen die Information „Telefonfreizeichen = Kammerton A“ zu verbreiten. Ehrenamtlich.
Ich habe auch Erfahrungen mit Mathematik: In der 11. Klasse widerlegte ich den Satz des Pythagoras. Der Beifall hielt sich zwar in Grenzen, denn mein Gegenbeweis war doof und hielt nicht stand; in der nächsten Freistunde zeigte mir jedoch ein Lehrer, den ich vorher kaum je gesehen hatte, einen regelmäßigen Vielflächner, den es nicht gibt. Er hatte ihn entdeckt, aus Zahnstochern und Pattex gebaut und in der Physiksammlung versteckt, wahrscheinlich, weil das spannender ist, als so etwas einfach der Welt zu präsentieren und sich dann den Stress in Stockholm zu geben.
Jedenfalls war ich die Schlechteste in Mathe und durfte trotzdem den sechsten regelmäßigen Vielflächner sehen. Ich habe vergessen, wie er aussah, aber es gab ihn.
Viele Jahre später habe ich darum den Leuten, die unermüdlich nach der nochnächstgrößeren Wahnsinnsprimzahl suchen, Rechenkapazität zur Verfügung gestellt. Mit meinem ersten, doofen Computer. Die hatten dann mehr von meiner Rechenkapazität als ich. Auf ihrer Website stand aber, jedes kleine Bit bringe die Wissenschaft voran.
Ich habe manchmal Schwierigkeiten, Blau und Grün zu unterscheiden. Bemerkenswert daran ist, dass von dieser Sehbehinderung angeblich nur Männer betroffen sind. Das hat mir jedoch nur ein einziger Optiker gesagt, und zwar beim Führerscheinsehtest. Vielleicht glaubte er, mir eine Geschichte mit Firlefanz eher andrehen zu können als eine profane Sondersehschwäche.
Damit hätte er Recht gehabt.
Meine Lieblingsfarbe ist Blaugrün, aber das war sie schon immer.