Oberhausen für Anfänger und Wiedereinsteiger
Heute haben wir endlich die Stadtrundfahrt für Touristen gemacht: Durch Oberhausen im doppelstöckigen Cabriobus, Wissenswertes und Panoramablick, hundert Minuten plus Fotopausen, um mal zu sehen, wo wir jetzt eigentlich wohnen.
Als Neubürger unter Scheintouristen
Höchstens fünfzehn Passagiere fuhren bei der Tour mit. Bei dem töften Wetter saßen alle oben, und ich glaube nicht, dass überhaupt Touristen dabeiwaren.
Außer meinem Mann hatten mindestens sechs weitere als Kind gleich da drüben gewohnt, da drin noch schwimmen gelernt, aus Versehen mal einen Ball da reingeworfen oder diese Ecke ganz anders in Erinnerung.
Andere redeten zwar nicht offen darüber, verhielten sich jedoch verdächtig:
So nutzte eine ältere Dame, die allein unterwegs war, die ersten Minuten der Fahrt zum Öffnen und Überfliegen irgendwelcher Alltagspost –
typisch einheimisches Papierverhalten.
Eine Touristin an ihrer Stelle hätte entweder kurz in die Broschüre geguckt, den Stadtplan zurechtgefaltet, einen bereits geöffneten Brief (aus der Heimat) an Herz oder Wange gedrückt oder einen fast fertiggeschriebenen Brief (in die Heimat) mit einem hingekrakelten Schluss versehen („Ich hör besser auf, das schaukelt so“) und direkt danach kuvertiert und frankiert.
Alt-Oberhausen
Die Familie mit der Teenagetochter und dem müden Söhnchen hätte zuerst noch von sonstwoher kommen können:
Vater und Mutter schwiegen, hörten dem Lautsprecher zu und schauten, wie wir, auf dessen Anweisung nach rechts, links oder direkt vorab.
Das Mädchen filmte sogar die Kirche mit ihrem Handy.
Aber dann demonstrierte der Vater Insiderkompetenz, indem er zuerst richtig voraussagte, was hinter der nächsten Ecke lag, dann von einem Handwerker gegrüßt wurde und schließlich sogar wusste, dass man da ganz lecker isst – und gar nicht mal so teuer.
Eine Frau zeigte ihrer Nebensitzerin „dat Haus von mein ersten Exfreund“.
Ein kompliziertes Plätzchen
Zuerst umkurvten wir unsere Nachbarschaft und sahen die Sehenswürdigkeiten, zwischen denen wir täglich herumlaufen:
den Friedensplatz, auf dem es jetzt wieder Blätter, Blüten, Teiche und Plätscherbrunnen gibt, das Amtsgericht, das Polizeikloster, die Kirche mit dem sanften Glockenton und den Saporoshje-Platz, einen weiteren Stammsitz des altoberhausener Platanenadels.
Der Saporoshje-Platz ist benannt nach Oberhausens ukrainischen Partnerstadt.
Sein Name wird hier von zehn Leuten auf sieben Arten ausgesprochen und steht auf fünf Plakaten in drei Schreibweisen, denen Wikipedia weitere zwölf hinzufügt.
Es gibt dort eine öffentliche Hängematte, eine hochperformante Wippe und kein Namensschild, das auch ich sehe.
Nachwuchs im Vokabelgehege
Schon an der zweiten Ampel lernten wir ein neues Wort, für das es hier viele Verwendungsmöglichkeiten gibt:
Backsteinexpressionismus.
Zum Thema Rathaus setzte der Fremdenführer noch einen drauf und bezeichnete dessen Zinnen und Muster als Backsteinhäkelei.
Auch dieses neue Wort haben wir sofort in unseren Wortschatz aufgenommen.
In Oberhausen gibt es Backsteinexpressionismus mit romanischen und romantischen Elementen, neogotischen und sakral geprägten Backsteinexpressionismus, kolonialpragmatisch ausgerichteten, irreparabel angelegten und bewusst funktional gehaltenen Backsteinexpressionismus sowie im Stil der damals modernen Historik dem klassizistischen Backsteinexpressionismus früherer Epochen nachempfundenen Backsteinexpressionismus.
Neue Mitte statt alter Hütte
Bei der urhistorischen St. Antony-Hütte durften wir neben einem schönen Fachwerkhaus aussteigen und in einem Parkwäldchen mit Weiher und Springbrunnen spazierengehen.
Auf einer Bank hatte sich ein tätowiertes Paar niedergelassen, um unkreativ und unengagiert aufeinander einzunörgeln.
Ein großer, schöner Collie saß artig daneben und war so gelangweilt, dass er uns etwas vorbellte.
Für unseren Balkon grub ich eine historische Brombeerpflanze aus und freute mich, weil die auch unserer nervenstarken, gutgelaunten und hübschen Busfahrerin gefiel.
Von der Hütte ist nichts mehr übrig, wenn ich das richtig verstanden habe. Aber es gibt dort ein Dach, unter dem sich eine besondere industriearchäologische Stätte befinden soll, was ich überhaupt nicht verstanden habe.
Ich sah nur Schotter und stellte mir geduldige Hochqualifizierte vor, die Rohrschellen und Grubenlampe aus dem Pleistozän freilegen – knietief in den Schlacken des 20. Jahrhunderts, ausgerüstet mit winzigen Bürstchen und beseelt von selbstlosem Erkenntnisstreben.
Hier erfährt man, wie es da tatsächlich aussieht und warum.
Oberhausen ist gerade mal 150 Jahre alt – jünger als Amerika, ein richtiges Nesthäkchen. Ich hätte nicht gedacht, dass es in der deutschen Siedlungsszene überhaupt so etwas Junges gibt.
Die Zuständigen haben wohl erst nur einen Bahnhof gebraucht, überraschend ein Reißbrett dazubekommen und das Ergebnis schließlich nach einem Schloss benannt.
Die Lücken wurden zuerst mit der Alten Mitte und diverser Industrie gefüllt, dann die Industrie wieder abgerissen und die neuen Lücken mit Parks und der Neuen Mitte gefüllt.
Wir waren am Hauptbahnhof zugestiegen, also in der Alten Mitte und auf halber Strecke. Offizieller Startpunkt der Tour ist die Neue Mitte, weswegen wir die Begrüßung des automatischen Fremdenführers erst nach der zweiten Pause hörten, als wir uns im Bus schon richtig heimisch fühlten.
Trotzdem waren seine Begrüßungsworte auch für uns ein Gewinn, denn nach „Willkommen in Oberhausen!“ und zwei fröhlichen Überleitungssätzen sagte er:
„Immer schön sitzen bleiben, sonst ist der Kopf ab.“
Wäre ich die Marketingabteilung der Oberhausener Touristikexpressionisten, hätte es dieser Satz längst auf ein T-Shirt geschafft.
Außerdem würde ich Backsteinhäkelei als Volkshochschulkurs etablieren.
Finale, Fazit, Vorsatz
Auf der Rückfahrt sahen wir ein bisschen was von der denkmalgeschützten Arbeitersiedlung Eisenheim, ein Stück vom Schloss und einen Teil des Kaisergartens.
Hübsch fand ich die Geschichte der früheren Schlossbewohner, eines Paares, das gegen die Standesregeln geheiratet hatte, daraufhin aus der Erbfolge flog und beschloss, jetzt erst recht herrschaftlich zu residieren. Wie haben die das nur angestellt?
Vielleicht liegen in einem vergessenen Oberhausener Schlosskeller noch die Baupläne einer Maschinerie, die Trotz zu Gold und Einspruch zu Silber spinnt.
Wenn die auftauchen, will ich aber auch mal.
Besonders gemerkt haben wir uns außerdem einen künstlichen Berg an der Knappenstraße, der mit Wanderwegen für den Aufstieg und Kunstwerken für Verschnaufpausen versehen ist, sowie eine Fußgängerbrücke aus einer Metallspirale.
Von weitem könnte sie aus einer der Sturm-und-Drang-Pausen des neofiligranen Metallimpressionismus stammen, wie sie sich da über den Fluss kringelt, als sei sie gerade zufällig vorbeigehüpft und habe sich spontan zu einem Schläfchen entschlossen.
Da gehen wir dann als Nächstes hin.