Wie klingt das Huhn, wenn es nicht gackert?
Gerade habe ich im Internet das Wort Chick-Lit gesehen. Das kann irgendwas bedeuten, am ehesten aber was mit Huhn. Chick-Lit klingt wie ein Hühnerlaut und sollte daher auch einen solchen bezeichnen. Hühner könnten dieses Wort ebenso aussprechen wie Menschen – selbst wenn keiner wüsste, was gemeint ist. Schön wäre natürlich, das Wort gemeinsam benutzen zu können, zum Beispiel so: „Als er das Chick-Lit seiner Lieblingshenne hörte, wusste der Bauer, dass es noch vor dem Mittag regnen würde.“
Sowas hätte ich gern, und darum hoffe ich jetzt einfach mal, dass das Wort mich nicht enttäuscht, indem es etwa darstellt, wie chocolate in irgendeinem Londoner Stadtteil ausgesprochen wird oder eine preisgekrönte Babytrage heißt.
Ich kenne einige Geschichten, in denen das Fangen, Schlachten, Rupfen, Ausnehmen, Kochen, Braten oder Essen von Hühnern ausgiebig behandelt wird. Eine davon hab ich selbst geschrieben, sie enthält Hühnersuppengeräusche. Allerdings fällt mir keine gelungene Passage über die Geräusche lebender Hühner ein. Vielleicht lese ich die falschen Bücher. Aber dann müssten mir doch wenigstens die richtigen einfallen.
Wahrscheinlich werden die Laute lebender Hühner literarisch immer nur im Nebenstrang abgefrühstückt – etwa als Hintergrundklangteppich einer ländlichen Idylle, in der außerdem der Mond aufgeht, ein Krieg ausbricht, Außerirdische landen, der Bauer den Knecht ermordet, ein Jogger über die Leiche stolpert, der Traktor nicht anspringt oder Leibniz das Mercurochrom erfindet.
Vielleicht liegt es am Vokabular. Für die meisten Geräusche, die lebende Hühner machen, gibt es keine Wörter. Den Rest unter „Gackern“ zu subsumieren, wird dem Huhn nicht gerecht, scheint dem Menschen jedoch zu genügen. Alternativ zum Gackern stehen immerhin Gackersynonyme zur Verfügung, etwa Glucken, Klucken, Glucksen oder Glacksern. Wie aber diese langgezogenen Hühnertöne dazwischen heißen, wissen weder Bauer noch Duden. Dabei sind die so bekannt und hühnertypisch, dass sie nie fehlen, wenn einer ein Huhn nachmacht.
Wollte ich jedoch darüber schreiben, müsste ich viele Wörter drumherumschustern, und zwar nicht nur doofe Physik mit Tonhöhen und -längen, sondern Bilder, Metaphern, Gefühl und Gedöns. Sonst hat ja nur das Huhn was davon.
Dieses Huhn ruckt also den Kropf zurecht, weil ein Geräusch herauswill, und da klingt es, ganz versonnen und versponnen, aber hört nicht auf, sondern rollt von unten nach, wird stark in der Mitte und rau an den Rändern, teilt die Luft und kräuselt Hühnerlappen, schwingt sich schließlich dort hinauf, wo das Huhn nicht mehr hinkommt, vergisst am Totpunkt seinen Nachhall und sinkt darauf zu Boden, wo es wieder zu dem Korn gescharrt wird, von dem es genommen ist –
Dann müsste ich das alles noch einmal durchlesen und zwei Drittel davon streichen. Das hört sich einfach an, ist es aber nicht, denn natürlich streiche ich auch in solchen Fällen nicht einfach irgendwelche zwei Drittel, sondern nehme die Sache ernst.
Viel problemloser auf den Punkt käme ich mit comicmäßiger Lautmalerei. So könnte das Huhn „buoohk?“ machen, „uuhk! “ oder „oorrgh“. Ich könnte aber nicht schreiben, dass das Huhn buookt oder uuhkt, d. h. offenbar kann ich das problemlos schreiben, aber wie es da steht, sieht es genauso scheiße aus wie erwartet. Zwischen den Gänsefüßchen ist es niedlich, qualifiziert aber Autor und Werk für eine Schublade, in die vielleicht keiner von beiden gelegt sein will und aus der sie dann nie mehr herauskommen, um gemeinsam bedeutend zu sein. Zum Bestseller taugt es auch nicht, wenn sich nicht jeder Satz in sämtliche Weltsprachen übersetzen lässt.
Natürlich besteht noch die Möglichkeit, dass Fachleute auf dem Gebiet der Geflügelhaltung und -kommunikation eine Vielzahl von Hühnerklangwörtern kennen, die vom Vater an den Sohn weitergegeben werden und für Laien unverständlich sind. So könnten in einer Zeitschrift namens „Huhn und Ei“ regelmäßig Artikel publiziert werden, in denen vom Beikropfgirren, Lautvernesten oder Zaudergullen die Rede ist. Fast kann ich es vor mir lesen: „Mit bassfedrigem Morgengrönen signalisiert der sibirische Flockwanst die beginnende Nestrücke. Dabei kann die Henne so stark überkropfen, dass die Schnatzgabel auskehlt und der Hahn den Glocksprung verfehlt. Zur Vorbeugung hat sich die Beikornung von Kleirupfen hervorragend bewährt.“
Im Übrigen weise ich darauf hin, dass es für Kuh- oder Schaftöne auch nicht genug Wörter gibt.
Dies ist der letzte Absatz, in dem ich zur Sache komme. Zur Vorbereitung habe ich nachgeschlagen, was Chick-Lit eigentlich bedeutet. Das war einfach: Gemeint ist Unterhaltungsliteratur für Mädchen und junge Frauen.
Damit ist gesichert, dass ich mein Ei am Nest vorbeigelegt habe. Hätte ich mich jedoch bereits vor dem Mutmaßen mit Basiswissen versorgt, wäre zum Mutmaßen nicht mehr viel übriggeblieben.