Alternative Fakten aus artgerechter Haltung
Geschichten müssen nicht wahr sein; wo kämen wir hin? Glauben muss man sie auch nicht; wenn das alle machen würden! Glauben macht hässliche Geschichten nicht schöner und triste Wahrheiten nicht wahrer. Manche Geschichten glaube ich ganz anders, seit ich weiß, dass sie nicht wahr sind. Aber eine hübsche Geschichte, die keinem was will und selbst wahr noch nicht wichtig wäre, die kann man doch auch einfach mal so glauben.
Hier sind sieben Perlen aus meiner privaten Alternative-Fakten-Sammlung:
1. Die Erfindung der Béchamelsauce
Als mein Bruder und ich Kinder waren, gab es bei uns oft Kartoffeln mit Béchamelsauce. Das lag daran, dass gegen Ende des Monats kein Geld mehr da war und unsere Mutter, die im öffentlichen Dienst arbeitete, ihr Gehalt immer erst am 15. bekam. Wir liebten Béchamelkartoffeln, und als wir unsere Mutter einmal fragten, woher der Name kommt, erzählte sie uns diese Geschichte:
Es war einmal eine französische Gräfin, die Comtesse de Béchamel, die allein mit ihren beiden ungezogenen Kindern in einem ungedämmten Schloss lebte, das von riesigen Kartoffelfeldern umgeben war. Die Kartoffeln, die dort wuchsen, waren sehr lecker, aber die Kinder wollten nicht jeden Tag immer nur Kartoffeln essen und sagten darum zu ihrer Mutter: „Non, non, non, maman, nous ne voulons pas de pommes de terre!“ Das war der erste französische Satz, den ich verstand und sagen konnte, und er bedeutet: Nein, nein, nein, Mama, wir wollen keine Kartoffeln!
Weil sich die Kinder immer mal wieder über die Kartoffeln beschwerten, erfand die Comtesse de Béchamel eines Tages eine Sauce, die so dick war, dass man die Kartoffeln darin gar nicht mehr erkennen konnte, und außerdem so lecker, dass man damit jeden Tag Kartoffeln essen konnte, ohne je genug davon zu bekommen.
Die traurige Wahrheit:
Die Béchamelsauce, auch bekannt als Weiße Sauce, ist eine französische Grundsauce, die nach ihrem Erfinder, dem französischen Koch François Louis Béchamel (1630-1703), benannt wurde.
Hier ist noch die wahre Geschichte, wie ich die traurige Wahrheit herausfand:
Mit 16 kochte ich regelmäßig Kartoffeln mit Béchamelsauce für meine Musikfreunde. Erstens, weil man damit jeden Tag Kartoffeln essen kann, und zweitens, weil die Soße unschlagbar billig und einfach zuzubereiten ist. Einmal fragte beim Essen jemand, warum die Béchamelsauce eigentlich so heißt, worauf ich mich zu Wort meldete und die Geschichte von der Comtesse de Béchamel erzählte. Als ich danach die Gesichter meiner Freunde sah, fiel mir zum ersten Mal auf, dass diese Geschichte eventuell historisch nicht einwandfrei ist.
Wir holten dann das große rote Meyer-Lexikon, schlugen nach, und was wir fanden, war so enttäuschend, dass wir beschlossen, stattdessen lieber die Geschichte meiner Mutter zu glauben. Seither wird der Begriff „Béchamelgeschichte“ im Familien- und Freundeskreis für erfundene Geschichten verwendet, die zum anliegenden Thema mehr hergeben und das Erzählen mehr lohnen als die „echten“.
2. John Dowland, der Barde zum Runterkurbeln
Diese Geschichte erzählte mir ein Freund, der sie von seinem damaligen Gitarrenlehrer gehört hatte:
Zur Frühzeit des Barock lebte in England ein außergewöhnlich begabter Lautenspieler namens John Dowland, dessen Werke wie durch ein Wunder der Nachwelt erhalten geblieben sind. Denn John Dowland geriet schon in seiner Jugend einem bösartigen König in die Hände, der selbst weder einen Sinn für Musik noch Mitgefühl für des Musikers Seele hatte, sondern den armen Künstler unter unmenschlichen Bedingungen als Statussymbol und zur Erbauung seiner Gäste bei Hofe hielt.
Zu diesem Zweck hatte der König über seinem Festsaal extra eine Doppeldecke installieren lassen, in der der arme John Dowland seine Unterkunft hatte. Ein Teil des Bodens ließ sich mithilfe eines ausgeklügelten Mechanismus absenken, sodass es möglich war, den Lautenspieler bei Bedarf zu den Gästen herunterzulassen, genauer gesagt: herunterzukurbeln, denn der Absenkmechanismus wurde durch eine große Handkurbel betrieben, für deren Bedienung immer ein Höfling bereitstehen musste.
So saß John Dowland tagein, tagaus in seinem Verschlag in der Decke, nahm dort seine Mahlzeiten ein, hatte dort sein Bett und musste auch seine Werke dort komponieren. Diese wunderschöne Musik hatte er, wann immer es den König danach gelüstete und er seinen Lautenisten herunterkurbeln ließ, vorzutragen. Und das konnte er nur aus dem Gedächtnis tun, denn er bekam weder ein Licht noch Papier und Tinte, um seine Werke aufzuschreiben.
Erst als er schon um die 50 war, gelang ihm die Flucht, und er schaffte es, seine bereits erschaffenen Werke aus dem Gedächtnis niederzuschreiben und zahlreiche weitere zu komponieren, bevor er schließlich als armer, aber glücklicher Mensch starb.
Die traurige Wahrheit:
John Dowland war ein englischer Komponist, Lautenist und Sänger, der im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert lebte. Viele seiner Musikstücke sind von Liebeskummer und Sehnsucht geprägt. Dowland reiste durch Europa und diente verschiedenen königlichen Höfen, darunter auch in Deutschland. Er veröffentlichte mehrere Sammlungen seiner Musik, war ein bedeutender Vertreter der englischen Renaissancemusik und gilt als einer der einflussreichsten Komponisten seiner Zeit.
3. Das Wunder der Kompasskrebse
Diese Geschichte hat mir ein Fremder auf einem Festival erzählt, genauer gesagt am Rand des Festivals, wo wir am Ufer eines Bachs ein Päuschen machten. In dem Bach tummelte sich alles Mögliche, und weil wir beide aus kleinen Dörfern stammten, erzählten wir uns zuerst von Kaulquappen, Gelbrandkäfern, Wasserflöhen, Molchen und anderen Dorfbachtieren. Schließlich schweiften wir ab und sprachen über Flüsse, die Sandkörner von den Bergen ins Meer transportieren, über den Strand und erstaunliche Meereslebewesen. Schließlich kam er mit dieser Geschichte an:
Das faszinierendste Tier der Welt ist der Kompasskrebs. Kompasskrebse kommen ohne Gleichgewichtsorgan auf die Welt. Sie haben nur eine bestimmte Vertiefung im Schädelknochen, die dafür vorgesehen ist. Darum sucht sich jeder Kompasskrebs, nachdem er aus dem Ei geschlüpft ist, als allererstes ein Sandkorn und legt es dort hinein. Dann taucht er geschickt unter und wieder auf, um das Sandkorn mit Wasser zu bedecken. Kurze Zeit später schließt sich der Schädelknochen über der Mulde, und das darin eingeschlossene, in Wasser schwimmende Sandkorn dient dem Kompasskrebs sein Leben lang als Gleichgewichtsorgan. Stirbt er, gibt sein zerfallender Körper das Sandkorn wieder frei. Und weil es den Kompasskrebs schon seit Millionen und Abermillionen von Jahren gibt, ist jedes Sandkorn an jedem Strand der Welt schon mindestens einmal im Kopf eines Kompasskrebses gewesen und hat ihm geholfen, sich zurechtzufinden.
Vor allem dieser letzte Teil hat mir dann vollends die Tränen in die Augen getrieben, und jahrelang habe ich diese wunderschöne Geschichte verbreitet. Irgendwann, ohne dass jemals jemand Zweifel daran geäußert hatte, deutete trotzdem irgendwer die Möglichkeit an, es könne sich um eine erfundene Geschichte handeln. Ich war richtig beleidigt.
Die traurige Wahrheit:
Wir schlugen im Internet nach und fanden dürftige Hinweise auf popelige Flusskrebse sowie angebliche Kompasskrabben, die so etwas Tolles aber nicht konnten. Zum Schluss wurde noch die Mathematik ausgewickelt und ein Rechenbeispiel angestellt, dessen Ergebnis eindeutig dagegensprach, dass jedes Sandkorn schon mal im Kopf irgendeines Tieres gewesen sein könnte.
4. La nonna del tiramisù
Diese Geschichte hat mir ein Italiener erzählt, von dem wir, als ich noch Lancias schraubte, Nachfertigungen diverser Gummidichtungen für Oldtimer bezogen. Wir telefonierten deswegen ziemlich häufig, und manchmal unterhielten wir uns dann noch ein wenig länger, was nicht so einfach war, da er kaum Englisch sprach und ich auf Italienisch nur Gummidichtungsnamen, den Text von „Una festa sui prati“ und ein paar unanständige Sprüche zum Feilschen auf dem Markt kannte.
Hier ist die Geschichte:
Das Tiramisu wurde natürlich in Italien erfunden, und zwar in einem italienischen Hotel. Dieses im „Stile Liberty“ (dem Italienischen Jugendstil) erbaute Hotel war eigentlich ein „Etablissement“ und gehörte zu den besten im ganzen Land, denn dort arbeiteten die schönsten und lustigsten Mädchen und wurden von einer klugen, warmherzigen und geschäftstüchtigen Puffmutter regiert.
Eines Tages beschwerten sich die Mädchen, dass die Pausenzeiten einfach nicht ausreichen würden, um in aller Ruhe ein Stück Gebäck und etwas Süßes zum Nachtisch zu essen und dann noch einen Kaffee und einen Likör zu trinken. Die Puffmutter hatte Verständnis und erfand ein Gericht, das all das enthielt und die Mädchen schnell wieder auf die Beine brachte. Sie nannte es Tiramisù („Zieh mich hoch“), und bis heute ist Tiramisù das einzige Gericht, das als Dessert die Hauptspeise mitbringt und als Aphrodisiakum ebenso funktioniert wie als Notration.
Die traurige Wahrheit ist, dass niemand weiß, wer das Tiramisu erfunden hat. Wahrscheinlich waren es alle Italienerinnen gleichzeitig, bevor Sprache und Veschriftlichung erfunden wurden.
5. Musik und Testosteron
Diese Theorie habe ich irgendwo gelesen und sofort geglaubt, denn sie liefert eine sehr gute Antwort auf die Frage, warum es so schwer ist, Frauen zu finden, die ohne Noten spielen, improvisieren und überhaupt neue Musik erfinden können. Hier ist die Theorie:
Es gibt einen „magischen“ Testosteronspiegel, der für Frauen ziemlich weit über und für Männer ein wenig unter dem Durchschnitt liegt. Liegt der Testosteronspiegel in diesem Bereich, kann der- oder diejenige improvisieren und komponieren. Ein Beweis dafür ist die Haarpracht vieler berühmter Komponisten, z. B. Beethovens Mähne; mit höherem Testosteronspiegel hätte er in diesem Alter längst Geheimratsecken, dünnes Haar oder eine Glatze gehabt! Und weil die Abweichung vom Durchschnitt bei Männern geringer ist als bei Frauen, haben logischerweise viel mehr Männer das Glück, in den magischen Bereich hineingeboren zu werden. Gauß‘sche Glockenkurve, c’est la vie, non est disputandum!
Das Problem mit der Geschichte ist der zweite Teil, mit dem es jedes Mal Ärger gibt, sobald auch nur eine Frau zuhört. Das liegt natürlich daran, dass die Theorie stimmt und es deswegen höchst unwahrscheinlich ist, dass die zuhörende Frau Musik erfinden kann. Deshalb wird sie sich irgendwohin abgestellt, betroffen oder beleidigt fühlen, pauschal widersprechen und erklären, das Ganze läge nur an der jahrtausendelangen Frauenunterdrückung. Nur darum konnten Männer mit ein bisschen weniger Testosteron eine Musiker- oder Komponistenlaufbahn einschlagen, während Frauen mit viel mehr Testosteron historisch gesehen ja kaum etwas anderes übrigblieb, als heimlich Papst zu werden oder bei der nächsten Revolution halbnackt voranzugehen, Jesus-Maria-Weltgericht-Fahnen hochzuhalten und sich anschließend hinrichten zu lassen!
Allerdings ist das kein Widerspruch, sondern bestätigt die Theorie; die passende Antwort auf diesen Einwand ist daher: „Ja, genau!“
6. Wasser in F-Dur
Ein englischer Forscher machte jahrelang Experimente mit fließendem und plätscherndem Wasser. Er nahm Wassergeräusche auf Tonband auf und analysierte hunderte, nein, tausende Aufnahmen, um festzustellen, ob das Wasser eine bestimmte Tonart „bevorzugt“. Die Auswertung der Aufnahmen ergab, dass die Frequenzen der Wasserklänge überdurchschnittlich oft denen der Töne des F-Dur-Akkords (F, A, C) entsprechen. Damit war bewiesen, dass das Wasser zwar in keiner bestimmten Tonart, aber noch am ehesten in F-Dur spielt, weshalb F-Dur immer die beste Wahl ist, wenn Musik nach Wasser klingen soll.
Der Forscher wurde dafür ausgelacht und grämte sich, aber ich war begeistert, denn das hatte ich schon immer gewusst. Ich erzählte es herum und wurde auch ausgelacht. Wo hab ich nur diese Geschichte gelesen? Bestimmt in GEO.
7. Fliegende Hamster
Meine Banknachbarin in der 8. Klasse erzählte mir, sie habe gestern schon wieder einen Hamster begraben müssen, der gestorben sei, als sie ihn von einem Bett zum anderen geworfen habe. Als ich fragte, warum sie das gemacht hätte, erklärte sie mir, Hamster könnten nur im Fliegen pinkeln. Weil sie das Fliegen aber im Lauf der Zeit verlernt hätten, müsste man sie jeden Tag mindestens einmal zum Pinkeln werfen.
Diese schauerliche Geschichte hatte sie von ihren älteren Brüdern gehört, deren Freude am Schwester-Verarschen immer noch ein gutes Stück größer war als der Hamsterfriedhof zwischen den Johannisbeerbüschen. Sie hatte den Brüdern geglaubt, weil die älter und zu zweit waren und den ersten Hamster zum Beweis noch selber geworfen hatten, um ihr zu beweisen, dass er dabei pinkelte. Ihr war dann nur noch eingefallen, an ihrer Wurftechnik zu feilen. Von Hamster zu Hamster zu Hamster zu Hamster. Denn sie wollte es ja gut machen.
Hier ist die Wahrheit (dass auch ungeworfene Hamster pinkeln können) ausnahmsweise viel schöner als die Geschichte.
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