Ein Kurzflorurlaub im Wunderland
Écriture automatique oder Automatisches Schreiben: Das sind die Begriffe, die uns der (leider erschreckend unspektakuläre) Dudenkalender für heute ans Herz legt. Präsentiert werden beide mit dem gefühlten Oberbegriff „Kreatives Schreiben“, der allerdings schüchtern ist und darum erst auf der Rückseite nachgereicht wird.
Einige Stunden später hören wir im Radio einen Beitrag über dasselbe Thema. Hey, Onkel Duden, was hast du denn da laufen mit Tantchen Radio Redlich? Aber wer auch nur einmal einen Tag mit WDR 5 oder dem guten, alten Deutschlandfunk im Bett verbracht hat, der weiß: Die sind alle harmlos. Höchstens gibt’s lange Folgen seltsamer Themen und dazwischen komische Musik.
Ich war zum Beispiel vor drei Tagen in dieser Lage. Nach der ersten Coronaimpfung (inzwischen ist fast die ganze Familie geimpft) schmorte ich mit Nebenwirkungen einen Tag lang im Bett – zu matschig zum Lesen und zu schwach, um den Arm auszustrecken und einen anderen Sender einzustellen. Da gab es eine ganze Reihe lustiger Features: Bessere Wahrnehmung queerer Protagonisten in Horrorfilmen. Inno-Pop aus Österreich. Ein überengagierter Musikkritiker, der das komplett missglückte Neuwerk eines untalentierten Motivationsrappers besprach und es in diesem Rahmen leider für notwendig hielt, viel zu viele Minuten daraus vorzuspielen, um die Qualitätsmängel noch plastischer belegen zu können … aber zurück zum Tagesthema, dem Automatischen Schreiben.
Zeigt her euer Unbewusstes
„Ich sag dann den Leuten, das kann ruhig auch mit blau, blau, blöd anfangen“, sagte eine Anhängerin dieser Schreibmethode in dem erwähnten Radiobeitrag. Gelobt und empfohlen wurden das Öffnen, Erschließen, Erwecken und Entdecken von Unbewusstem, Assoziationen, Erinnerungen und inneren Ressourcen, ebenso das Potenzial der Methode beim Überwinden von Schreibblockaden.
Schreibblockaden können wir Gedankenstricher uns natürlich nicht leisten; das wär ja, als würde der Schreiner turnusmäßig unter Sägeblockaden oder der Dachdecker dienstags unter Höhenangst leiden. Wenn wir schreibtechnisch mal nichts gebacken kriegen, nennen wir das deshalb „keine Lust“, „Scheißwetter“, „eingeschlafener Hintern“ oder „sperriges Thema“. Ich könnte mich allein deshalb nicht mit Schreibblockade herausreden, weil ich ja auch ein Diktiergerät habe, und Sprechblockade … da müsste ich schon verdrahtete Kiefer, Koma oder die Apokalypse nachweisen, damit das jemand glaubt.
Diese kreative Überleitung werden Sie kaum fühlen
Eine ebenfalls hocheffiziente und dabei noch viel automatischere Methode, die Pforten zum Unbewussten aufzustoßen, ist das Riechen. Das ist natürlich ein alter Hut: Jeder, der über einen Geruchssinn, ein paar Erinnerungen und ein bisschen Unbewusstes verfügt, weiß, wie die zusammenhängen. Ich schreib das jetzt hier aber trotzdem hin, halbautomatisch und hochaktuell, weil ich vorhin eine Packung mit sogenannten Konjaknudeln geöffnet habe. Das ist eigenartiges Trendfood, das ich aus Neugier gekauft habe, um mir dann sagen zu lassen, das könne ich auch ruhig ganz alleine essen.
Ich habe also die durchsichtig-weiche Plastikverpackung aufgeschnitten und festgestellt: Diese fertig gekochten, in Wasserbrühe schwimmenden Konjaknudeln, die aus irgendeiner Pflanze bestehen und nichts enthalten außer Ballaststoffen, verströmen einen ganz leicht fiesen Geruch. Ich kann gar nicht genau sagen, wonach sie riechen, aber ich dachte sofort ans Teppichland Holzbachtal.
Das Teppichland Holzbachtal war ein Sehnsuchtsort in Kindheitstagen: riesige, weitläufige Gebäude voll weicher Stapel, bunter Türme, fahrbarer Gerüste und verschiebbarer Stangen mit Gardinen, Plüschkram, Teppichen, Auslegware auf meterlangen Rollen, die mithilfe von turmhohen, weich summenden Maschinen in einer gigantischen Kreisbahn umhergefahren werden konnten, um einzelne Rollen auf Augenhöhe zu befördern, zu befühlen, zu beriechen und dann mittels Geheimknopf weiterzuschicken …
Wie in den Achtzigern
Was ich eigentlich sagen wollte: Als ich den Geruch dieser Konjaknudeln wahrnahm und mir sofort war, als wäre ich wieder ein kleines Mädchen und im Begriff, mit meinem Bruder zusammen die erste dieser Hallen zu betreten, bereit, sofort loszurennen, auf den ersten Teppichstapel zu springen, zwischen hängenden Stoffbahnen zu verschwinden oder den erstbesten Verkäufer zu überreden, uns die Teppichrollen hoch- und runterfahren zu lassen, da fiel mir auf, dass der Geruch in diesen Hallen dann doch eigentlich auch ganz leicht fies gewesen sein muss.
Seltsam, wie mit zunehmendem Alter überall in der Wahrnehmungswelt eigenartige Fiesheitsverschiebungen vor sich gehen. Zum Beispiel neulich, kurz vor der Pandemie: Mein Mann und ich, Volkspark Osterfeld, ein Büdchen, davor ein Eisschild, auf dem stand: „Dolomiti, Original-Rezeptur, schmeckt wie in den Achtzigern!“
Wir so: Geil, wie in den Achtzigern, weißt du noch, klar, kann ich heut noch schmecken, superlecker … und natürlich sofort zwei gekauft.
Dann schmeckten die tatsächlich wie in den Achtzigern, das haben wir sofort gemerkt, aber gleichzeitig haben wir leider gemerkt, dass die dann wohl schon in den Achtzigern ganz schön fies geschmeckt haben müssen, nur fanden wir sie damals halt superlecker.
Gewaltige Reminiszenzen, wenn auch nicht gerade von Rimini
Nach schätzungsweise drei Minuten haben die Konjaknudeln ihren ohnehin schwachen und fernen Teppichland-Holzbachtal-Geruch fertig verströmt und riechen nach gar nichts mehr. Weil es – wie ich mich jetzt erst zuzugeben traue – nicht das erste Mal ist, dass ich diese seltsamen Nudeln esse (sie kauen sich wie Wakame, diese japanischen Seealgen) weiß ich, dass der Geruch damit nun exakt dem Geschmack entspricht. Die Erinnerung ans Teppichland Holzbachtal dagegen – Wahnsinn, als wär’s gestern gewesen.
Nochmal! Nochmal!
Diese Stapel kuschliger Lammfelle, die Sitzpoufs aus bunt vernähtem Leder, die schummrig beleuchtete Nebenhalle mit orientalischen Teppichen, von denen manche sogar aufgehängt waren, damit man die geheimnisvollen Muster besser sehen konnte. Und niemanden, wirklich niemanden schien es je zu stören, dass wir durch alle diese Hallen rannten, auf jeden Stapel kletterten und jeden Mechanismus, der keinen Spezialschlüssel erforderte, selbst in Bewegung setzten. Und das auch noch, obwohl unsere Mutter bei all diesen Besuchen niemals etwas Teureres kaufte als einen neuen Flickenteppich für die Küche, eine Vorhangstange oder ein Tütchen Gardinenhaken.
Rechts und links des kleinen, steilen Weges, der zum Teppichland Holzbachtal und dann zwischen den Hallen hindurchführte, standen stabile Schilder mit der Inschrift Teppichland Holzbachtal Berlin, so dass wir wussten, dass es ein solches Teppichland nur hier und in Berlin gab. Das zu wissen, machte das Holzbachtal in meiner Phantasie zu einem Ort von Weltrang. Bis heute kann ich mir nicht vorstellen, warum sich das Unternehmen ausgerechnet das enge, steile Holzbachtal ausgesucht hat, ein Tälchen von der wildromantischen, stolprig-verspukten Sorte, das zwar ideal für die reichlich enthaltenen Sägewerke geeignet ist, in dem aber kein vernünftiger Mensch eine derartige Ansammlung von Teppichhallen erwarten würde. Trotzdem gehörte das Teppichland in dieses Tal, als sei es bereits vor den Sägewerken, ach was, schon vor der Kontinentalverschiebung dort errichtet worden. Und deshalb weiß ich auch ohne nachzugucken, dass es das Teppichland Holzbachtal immer noch gibt. Bei der Filiale in Berlin wäre ich dagegen nicht so sicher.
Und jetzt noch sowas: Olfaktorischer Hausputz mit Komplementärgerüchen
Etwas ganz anders Seltsames über Gerüche haben wir gestern Abend im Fernsehen gesehen, genauer gesagt in einem Werbespot. Es ging um einen Raumbedufter bzw. ein kleines Gerät zum Neutralisieren von schlechten Gerüchen, die man selbst schon gar nicht mehr wahrnimmt, mithilfe sogenannter Komplementärgerüche. Das Gerät wurde unter anderem damit beworben, dass es das einzige mit drei wählbaren Komplementärgerüchen sei.
Bei dem Versuch, uns vorzustellen, wie so ein Komplementärgeruch riechen und wie er heißen könnte, lachten wir uns kaputt. Abends sitzt die Familie vor dem Komplementärgeruch-Vorwahlknopf und überlegt, welchen üblen Geruch, den sie selbst gar nicht riechen, sie neutralisieren wollen. Jeder macht einen Vorschlag, etwa: Lass auf Nichtkatze stellen. Oder: Mach mal Konterfisch an.
Die schönsten Vorschläge machte mein Mann mit „Unhund“ und „Nixpisse“. Dagegen stanken verkopftere Varianten wie „Antigammel“, „Minusfuß“ und „Nullzwiebel“ schon fast wieder ab, zumindest im Wortsinn, notfalls auch buchstäblich, denn am Geruch würden wir sie wahrscheinlich gar nicht erkennen.
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