Gammelkirschen, Zimtnudeln und Selbstmordjoghurt

Als ich noch klein war, kaufte unsere Mutter im Dorfladen mal eine Tafel Schokolade, in der Schokoladenwürmer waren.
Wir wollten die Schokolade in den Laden zurücktragen, aber unsere Mutter erklärte uns, in einem solchen Fall sei ein Brief an den Hersteller das Mittel der Wahl.

Also schrieb sie einen Brief, wir legten die Wurmschokolade samt Originalverpackung bei, und ungefähr eine Woche später kam ein Paket mit ganz vielen Schokoladentafeln und einem Entschuldigungsschreiben.

Im Verlauf meiner Jugend erlebte ich noch mehrere Male die Macht des Briefes an den Hersteller:

Lindt schickte uns ein gewaltiges Pralinenpaket, um uns für eine nach Erdöl schmeckende Geburtstagsmischung zu entschädigen.

Colgate wusch die Schmach einer Borsten verlierenden High-End-Zahnbürste mit einer Gratisladung Zahnbürsten und Zahnpasta von sich ab.

Selbst die Molkerei Weihenstephan ließ sich dazu herab, uns im Austausch für eine angeschimmelte Topfenprobe einen Einkaufsgutschein zukommen zu lassen.

Als es mir in meiner ersten eigenen Küche nicht gelingen wollte, Fertigreibekuchen von Pfanni zuzubereiten, tröstete Pfanni mich mit einem Riesenpaket voller Kartoffel-, Semmel- und Saucenpulver, das freundlicherweise sogar doppelt verschickt wurde, so dass ich während der nächsten Monate jedem unerwarteten Besuch eine Köstlichkeit aus der Tüte servieren konnte. Darum ist mir diese Firma, deren Produkte mir allesamt nicht schmecken und über deren restliche Firmenpolitik ich nichts weiß, bis heute sympathisch.

Aber ach: So scheint das heute nicht mehr zu laufen. Im Jahr 2009 habe ich zum letzten Mal eine Antwort auf einen Brief an den Hersteller erhalten. Damals ging es um folgendes Problem:

Sehr geehrte Damen und Herren,

bei Aldi kaufe ich seit längerem regelmäßig Ihren feinen Erdbeerjoghurt in den 1000 g-Eimern (Bodensee Erdbeere Fruchtjoghurt extra sahnig), und noch nie hatte ich einen Grund zur Beanstandung. Gestern allerdings standen mir die Haare zu Berge, als ich im Joghurt den beigefügten Metallspan entdeckte. Ich hatte den Eimer gerade erst geöffnet, so dass es ausgeschlossen ist, daß das Metall hier in den Eimer gefallen ist; davon abgesehen gibt es solche Teile nicht in meinem Haushalt. Ich war gottfroh, dass nicht eines der Kinder sich das erste Joghurt aus dem Eimer geholt hat.

Wie um alles in der Welt kann so ein gefährliches Ding in ein Lebensmittel gelangen? Nicht auszudenken, wie man sich damit verletzen kann. Ich bin völlig verunsichert und hoffe auf eine Erklärung Ihrerseits. Den Joghurt habe ich weggeworfen.

Mit freundlichen Grüßen,

Christine Praetorius

Der Hersteller reagierte mit einem artigen Entschuldigungsschreiben, in dem er auf die Möglichkeit hinwies, das Selbstmordjoghurt könnte bei einer Maschinenumstellung entstanden sein. Außer dem Brief gab es nichts – dabei hatte ich den Kindern erklärt, da gäbe es mit Sicherheit irgendwas.

Dieser Brief, den unsere Tochter im letzten Jahr eigenhändig schrieb, nachdem sie sich furchtbar über ein Glas Kirschen geärgert hatte, blieb gänzlich ohne Antwort:

Beschwerde über schlechte Kirschen

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich habe kürzlich ein Glas Sauerkirschen der Marke Sweet Valley gekauft. Als ich diese essen wollte, habe ich festgestellt, dass ca. 75 % der Kirschen Wurmlöcher, Vogelbissspuren und gammelige Stellen hatten, die den Geschmack erheblich beeinträchtigten.
Wer Kirschen direkt vom Baum isst, weiß, dass sie solche Spuren haben können, und ist darauf vorbereitet. Doch bei abgepackten Kirschen gehe ich davon aus, dass schlechte aussortiert wurden. Schließlich bezahle ich für leckere Kirschen.

Ich würde mich freuen, wenn das ein Einzelfall bleiben könnte.

Hochachtungsvoll,
L. Praetorius

Vor anderthalb Monaten wagte ich einen weiteren Versuch mit einer wirklich putzigen Beschwerde, von der wir dachten, sie könne keinen Nudelhersteller unberührt lassen:

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir kaufen seit Jahren bei Aldi Ihre Cucina Spaghetti, und sie schmecken der ganzen Familie. Dieses Mal ist uns jedoch etwas ganz Außergewöhnliches aufgefallen: Die frisch gekochten Spaghetti (ich hatte sie wie immer lediglich in Salzwasser gekocht) dufteten intensiv nach Zimt und hatten auch einen leichten Zimtgeschmack. Das hat keiner von uns je erlebt.

Könnte es sein, dass in Ihrer Produktionsstraße für andere Waren auch Zimt verarbeitet wird, dessen Aroma so in den Nudelteig gelangt sein könnte? Immerhin hat lebensmitteltechnisch bereits die Vorweihnachtszeit begonnen.Oder ist vielleicht eine neue Zutat in Ihren Spaghetti, die wegen der geringen Menge nicht auf der Packung ausgewiesen ist?

Gekauft haben wir diese Spaghetti im Aldi Süd im Bero-Zentrum in Oberhausen/NRW. Die Packung und ein paar Nudeln vom gestrigen Abendessen lege ich Ihnen bei – und hoffe, dass der nach wie vor deutlich wahrnehmbare Zimtgeruch auch noch die Reise nach Nürnberg überstehen wird.

Wir sind jetzt schon alle sehr gespannt auf Ihre Antwort.

Mit besten Grüßen
Christine Praetorius

P. S. Trotz des Zimtaromas haben die Nudeln lecker geschmeckt. Es war lediglich ein wenig abenteuerlich in der Sauce Bolognese.

Ja, was soll ich sagen? Es kam nichts. Und ich fürchte, da kommt auch nichts mehr: Kein Brief, kein Paket, nicht einmal eine E-Mail mit einem lustigen Internetcode.
Offenbar sind die Zeiten vorbei, in denen kuriose Dinge im Essen auch Anlass zur Freude waren und Mütter ihren Kindern durch die Weitergabe von Wissen über die Macht des Briefes an den Hersteller einen nützlichen Dienst erweisen konnten.

Das ist schon schade. Finde ich.